Doch Rheys würdigte sie keines Blickes mehr sondern sprach nur noch mit Bosco, als wäre sie nichts weiter als ein ungehorsames Kind. Der Mann war wirklich unmöglich. Trotzdem fürchtete sie sich vor ihm. Seine ganze Aura war bedrohlich.
„Lass sie gefälligst nicht hier herum streunen. Sie soll sich nützlich machen. Gib sie Kyra, da ist sie gut aufgehoben.“
Nun endlich lockerte er seinen Griff, so dass Jessy ihren Arm herauswinden konnte. Das würde einen satten Bluterguss geben. Er benutzte die freie Hand um belehrend seinen Finger auf Bosco zu richten.
„Wenn sie etwas anstellt, ziehe ich dich zur Verantwortung.“
„Ja, ja, schon gut“, antwortete Bosco.
Dann drehte Rheys sich um und stürmte davon. Jessy richtete sich erleichtert auf. Die ganze Zeit hatte sie den Kopf eingezogen, als könne sie dem Zorn dieses Mannes dadurch ausweichen.
„Tja, jetzt hast du also Rheys kennen gelernt“, sagte Bosco und schnitt eine Grimasse.
„Was für ein Kotzbrocken. Ich habe wirklich nicht lauschen wollen. Und überhaupt habe ich kein Wort von dem verstanden was geredet wurde“, sagte Jessy.
„Bist du wirklich keine Spionin?“ fragte Bosco misstrauisch. „Wenn doch zieht Rheys mir das Fell über die Ohren. Und das wird kein schöner Anblick.“
„Ich schwöre es.“
„Na gut. Aber geh ihm besser aus dem Weg. Er ist ein wenig… schwierig.“
Jessy rieb sich den schmerzenden Arm. „Ja, den Eindruck habe ich auch.“
Glücklicherweise hatten die Geschehnisse Jessy so erschöpft, dass sie auf der Strohmatratze, die man ihr in einer Dachkammer zugewiesen hatte, schlief wie ein Stein. Andernfalls hätte das Schnarchen der drei Mädchen, mit denen sie das Zimmer teilte, sie keine Sekunde zur Ruhe kommen lassen. Und schon im ersten Morgengrauen begannen sie zu schnattern und Jessy neugierige Fragen zu stellen. Als sie feststellten, dass Jessy nicht besonders viele Auskünfte geben konnte, ließen sie jedoch von ihr ab.
Sie selbst beschloss, sich ein wenig umzuhören. Es konnte nicht schaden, möglichst viele Informationen über diesen seltsamen Ort und seine Bewohner zu sammeln. Man hatte sie bereits verdächtigt, etwas gegen den König im Schilde zu führen, deshalb musste sie vorsichtig vorgehen. Aber Kyra spielte ihr in die Hände. Der kühlende Umschlag hatte Jessys Knöchel schon beinahe geheilt und sie konnte sich humpelnd durch die ganze Burg bewegen. Kyra schickte sie von der Speisekammer in den Speicher, in die Bäckerei und wieder zurück. Sie half beim Polieren des Bestecks und beim Schneiden riesiger Gemüseberge für das Mittagessen und holte sogar unter Protest ein paar tote Hühner aus der Schlachterei. Bei all diesen Tätigkeiten war sie umgeben von Dienern und Mägden, die sie unauffällig ausfragen konnte.
„Wie ich höre gibt es hier auch einen Prinzen?“ fragte sie beiläufig, während sie am späten Vormittag beim Kneten von Pastetenteig half. Die beiden Mädchen Tisi und Marna liefen sofort rot an und begannen zu kichern.
„Oh ja, den gibt es. Wie kommt es nur, dass du noch nie von ihm gehört hast? Prinz Tychon. Er ist der Schönste unter der Sonne“, sagte Tisi schwärmerisch. „Wenn ich mir einen backen könnte, mein Mann müsste genauso sein wie er.“ Dabei bearbeitete sie liebevoll den Teigklumpen vor sich.
„Er ist sehr klug und gewandt“, erklärte Marna, die ruhigere der beiden. „Aber der König will seinen Thron noch nicht freimachen und ihn dem Prinzen überlassen. Tychon ist erst zweiundzwanzig. Deshalb haben die beiden ständig Streit, sagt man. König Bairtliméad behandelt ihn noch immer wie einen Jungen. Dabei ist er bereits ein Krieger und sitzt im Kronrat. Er wird sicher einmal ein sehr guter König sein, weise und gut. Alle Menschen lieben ihn.“
„Hört sich ja zauberhaft an“, sagte Jessy leichthin und sofort wurden die Mädchen ernst.
„Was meinst du damit?“ fragte Tisi. Jessy hob die Brauen. Zauberei war also ein gefährliches Thema. Am besten sprach sie nie wieder davon. Dabei hätte genau das sie brennend interessiert.
Meinst du, es ist Magie im Spiel? hatte der Prinz seinen scheußlichen Freund gefragt.
„Nichts, ich meine gar nichts“, sagte sie schnell. „Traumhaft, es hört sich traumhaft an. Hat er denn auch eine Frau, dieser Traummann?“
Dieses Thema schien den Mädchen mehr zu behagen. Sie grinsten wieder.
„Noch nicht. Dabei treiben sich so viele reiche Fräulein hier herum, die für ihn passend wären. Aber er besteht darauf selbst zu wählen.“
„Ist das nicht romantisch? Er wartet, bis er der Richtigen begegnet…“
„Ihr dummen Gänse“, tönte die raue Stimme von Barla vom anderen Ende der Küche herüber. Sie war eine dicke Frau in den Fünfzigern mit gerötetem Gesicht und kleinen Augen. „Ihr tut gerade so, als ob er eine von euch aussuchen würde.“
„Tychon schätzt die Dienerschaft nicht gering“, antwortete Tisi spitz. „Immerhin ist einer von den Wölfen sein bester Freund.“
„Wie man hört, soll die Prinzessin aber bald verheiratet werden“, sagte Marna nachdenklich. „Das arme Ding. Sie ist jünger als ich. Und wird wahrscheinlich irgendeinen alten Adligen nehmen müssen.“
Klar, dachte Jessy. Das Mädchen darf natürlich nicht auf den Richtigen warten.
„Wenn ihr mich fragt“, mischte sich Barla wieder ein, „ist sie nichts als ein verwöhnter Fratz. Sie sollte sich glücklich schätzen mit all ihrem Reichtum und ihren schönen Sachen. Doch was tut sie? Macht ihren Eltern nur Kummer.“
„Was ist denn mit ihr?“ fragte Jessy.
„Sie ist eben ein Wildfang“, antwortete Tisi schulterzuckend. „Will sich nicht benehmen wie eine Dame, will nicht lernen oder handarbeiten. Man sagt, sie bittet manchmal Knechte im Stall, mit ihr zu kämpfen. Mit Holzschwertern! Ist das nicht lächerlich? Dabei bräuchte sie doch den Stall eigentlich nicht mal zu betreten.“
„Ich glaube, sie ist sehr unglücklich“, meinte Marna bedrückt.
In diesem Augenblick kam Kyra herein und unterbrach das Gespräch.
„Jessy, geh bitte mit mir in den Keller. Wir brauchen noch mehr Obst und Speck, du kannst tragen helfen“, sagte sie und winkte Jessy zur Tür. Mittlerweile konnte sie wieder fast schmerzfrei auftreten und lächelte.
„Deine Medizin ist großartig, Kyra“, sagte sie voller Bewunderung. „Sagst du mir, was du dafür verwendet hast? Bei mir zuhause…“ Sie stockte. Worauf wollte sie denn hinaus? Sicher würde ihr kein Apotheker einen solchen Kräuterumschlag machen. Doch Kyra überhörte ihr Zögern.
„Natürlich, meine Liebe. Es freut mich, dass es besser geworden ist. Du bist auch schon sehr fleißig gewesen heute.“
Das stimmte allerdings. Seit dem Morgen war Jessy auf den Beinen. Schon lange war sie an einem Tag nicht mehr so viel hin und her gelaufen. Und zwischendurch wurde sie sich immer wieder überdeutlich der seltsamen fremden Dinge bewusst, die sie umgaben. Nichts was sie berührte war künstlich, alles war handgemacht. Es gab keine Elektrizität und doch schien sie an keiner Stelle des Haushalts zu fehlen. Keine Nebengeräusche von Fernsehern, Telefonen oder Verkehrslärm lagen in der Luft und trotzdem brummte und summte die Burg vor Geschäftigkeit. Zuhause schaltete Jessy meistens das Radio ein um die Stille aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Hier konnte sie sich so ein hintergründiges Gedudel überhaupt nicht vorstellen. Sie fühlte sich seltsam wohl, aber auch schmerzhaft abgeschnitten von allen Dingen, die sie eigentlich wertschätzte. Eine heiße Dusche hätte ihr gut getan oder eine große Tasse Kaffee. Ein kleiner Internet-Bummel zur Entspannung…
Sie erreichten die Tür zum Vorratskeller. Die ganze Burg war unterhöhlt von riesigen Gewölben, wo verderbliche Speisen, Bier und Wein gelagert wurden. Kyra fluchte leise, als sie sah, dass die Tür offen stand und hob ihre Laterne. Hier unten war es finster wie in einem Verlies und von den Steinwänden ging feuchte Kälte aus.
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