"Hei! Gibt es dich auch noch? Lass mich die Neuigkeiten mal erraten: Herr Schwarz ist gestorben?"
"Leider falsch", lachte sie, "jedenfalls weiß ich nichts davon. Lieber wäre mir auch wenn der Kasperkopf Korte stirbt, der es jetzt immerhin geschafft hat, eine Literaturliste herauszubringen."
"Schön, weiß ich sogar bereits."
"Das ist gut, dann können wir ja jetzt loslegen. Hast du eigentlich schon irgendwas getan?"
"Bis jetzt noch nicht, auf blauen Dunst zu lernen ist bei der Gesamtmenge mit den anderen Fächern nicht mein Ding. Obwohl: Vieles überschneidet sich mit Wifipo. Ein Insidertip soll übrigens das Blockseminar sein, das nächsten Montag ist."
"Habe ich auch gehört."
"Meistens kommt in der Klausur eines der Themen davon dran, diesmal könnte ich mir vorstellen, dass wir mit Kohle- oder Agrarsubventionen beglückt werden."
"Nein, hoffentlich nicht. Davon hab ich ja gar keine Ahnung", jammerte sie.
"Das kriegen wir schon hin", beteuerte ich und vereinbarte für Freitag unseren ersten AG-Termin.
"Der Korte ist mir richtig unsympathisch", klagte sie weiter, "der denkt sich bestimmt was aus, was ich nicht kann. Ist der wohl mit jemanden leiert?"
Jetzt musste ich den Telefonhörer in die andere Hand wechseln. "Auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst, sogar mit jemandem, der die Herzen aller VWLer höher schlagen lässt, einer sehr ansprechenden Assistentin am Institut für Verkehrswissenschaft."
"Hoffentlich hat er die nicht Fecht ausgespannt", ging es weiter, "der Kerl ist nämlich als Charmeur noch weniger geeignet. Bei Schwarz im Büro hängt übrigens ein nettes Foto."
"Das muss seine Schwester sein."
"Irrtum, die Frau gibt es wirklich, jedenfalls habe ich die beiden schon Hand in Hand auf dem Prinzipalmarkt gesehen, ein schönes..."
"Entschuldige bitte, aber was du auch sagen möchtest, ich möchte es nicht wissen."
"Wieso denn nicht? Die beiden passen richtig zueinander."
"Wie ein Deckel auf den Topf."
"Du hast eben keinen Sinn für so etwas."
"Vielleicht unterschätzt du mich da", kritisierte ich sie herausfordernd.
Darauf tuschelten wir fast eine halbe Stunde. Merkwürdig wie die Zeit verging, sie philosophierte über Beziehungen, Assistentenglück und das Heiraten, und ich hörte zu. Dann überkam uns der Ernst des bitteren Examinandenlebens, und wir glaubten, uns wichtigeren Dingen widmen zu müssen.
"Tschau, bis Freitag."
"Tschau, Betti", und unser erstes Telefongespräch war beendet.
Drei Tage später besuchte ich sie zur AG in ihrer Wohnung in Münster Mecklenbeck. Sie hatte mich bereits beobachtet und drückte den Türöffner, bevor ich schellte. Im ersten Stock war ihr Appartement. Einladend lächelnd stand sie in der Tür: "Hallo, Till!"
"Hallo", lächelte ich zurück und schaute mich um.
Sie hatte ein großes Zimmer. Hinter der nach außen gerichteten Fensterwand war ein Balkon, der wegen des Herbstes traurig wirkte. An der rechten Seite eine kleine Küche, ein angedeutetes Entree und das Bad. Ihre Einrichtung fand ich ein wenig bunt durcheinander gewürfelt, außerdem herrschte beträchtliche Unordnung. Dazu passend warf ich meine Jacke neben einen Stapel Süddeutscher Zeitungen auf ein blau-rot gemustertes Faltsofa, auf dem der Hase Hops und der Heinzelmann Moritz wohnten. Auf dem Tisch davor: Unzähligen Blätter, eine Obstschale, ein Teller mit Kinderschokoladenbonbons und diverse weitere Zeugnisse einer überfälligen Unaufgeräumtheit. An ihrer Küchentür fiel mir ein Poster mit einem langhaarigen blonden Mädchen in einer Lederjacke auf, das mich freundlich über einem Frühstückstisch anlachte. Ihr weiteres Mobiliar bestand aus alten Kommoden und Schränken, die vermutlich schon ihren Großeltern gute Dienste erwiesen hatten.
Betti schob mir einen ihrer Stühle zu und fragte, ob ich Orangensaft oder Wasser trinken möchte. Ich entschied mich für einen Kaffee, falls das keine Umstände machte.
"Macht es nicht!" verschwand sie in ihrer Küche. Als sie wiederkam, machte sie es sich in ihrem exquisiten Chefsessel bequem: "Lass uns einfach anfangen", sagte sie.
Ihre Beine zog sie ganz zusammen, und weil sie so klein war, passte sie dadurch genau in den Sessel, in dem sie sich zusätzlich in eine Wolldecke einrollte.
"Hast du schon die komplette Literatur?" fragte sie als nächstes und kramte ihre Liste aus einer Ablage ihres im Gegensatz zum Zimmer auffällig gut sortierten Schreibtisches hervor. "Ich habe leider bisher nicht allzu viel gemacht", gestand sie beinahe mit einem schlechten Gewissen.
"Ich auch nicht. Zuerst sollten wir einmal die Liste durchgehen und nach Relevantem und weniger Relevantem ordnen. Danach können wir ein Konzept für unser weiteres Vorgehen erstellen", schlug ich vor.
Nach kurzer Zeit merkte ich, dass sie inhaltlich nicht sonderlich fit war. Ich fragte mich ernsthaft, was sie drei oder vier Semester lang in den Vorlesungen gemacht hatte und begann mit einem Vortrag über den allgemeinen Finanzausgleich, eines meiner Lieblingsthemen. Sie servierte mir derweil meinen Kaffee und hörte aufmerksam zu, wobei ihre blauen Augen mich immer irritierter anschauten: "Meinst du, dass ich auch die Klausur schaffen kann?" fragte sie richtig ängstlich nach einer Weile.
"Ich fürchte fast nicht", lag mir auf der Zunge, was ich gerade unterdrückte.
Beinahe schämte ich mich, mit dem einzigen mir vertrauten Thema, den Eindruck erweckt zu haben, total gut vorbereitet zu sein: "Bestimmt, wir haben genug Zeit, und soviel Stoff ist es doch gar nicht. Außerdem sagtest du, bisher nicht viel gemacht zu haben. Wenn du dich erst einmal eingelesen hast, klappt das schon", versuchte ich sie aufzumuntern.
"Meinst du?"
"Ja, ganz sicher! Und jetzt überlegen wir, womit wir nächste Woche richtig einsteigen."
Gemeinsam machten wir einen Plan. Wöchentlich nahmen wir uns einen Aufsatz vor, den wir dann zusammen besprechen wollten. Zum Ende dachten wir, wäre es sinnvoll, probeweise einige Mustergliederungen für potentielle Klausurfragestellungen zu entwerfen, und für das erste verabschiedeten wir uns bis Montag zum Blockseminar.
Dieses Seminar schien auch im Einvernehmen mit Martin Haim so eminent zu sein, dafür sogar unsere Montags-AG ausfallen zu lassen. Als Gastorator war einer der ehemaligen Professoren extra aus den neuen Bundesländern angereist, der es derweil in den Hierarchien unseres Staates weit gebracht hatte. Korte & Co. gaben sich deshalb größte Mühe für ein adäquates Ambiente zu sorgen. Als Buffet gab es frisch gestrichene Brötchen mit Käse und Schinken, dazu Mineralwasser und heizungswarmes Krombacher. Prost!
Ein etwas penetranter Kommilitone, der in irgendeiner Kleinstadt als JUler aktiv sein musste, konnte seinen Profilierungstrieb nicht unterbinden und stellte permanent intelligente Fragen, die eigentlich seinem IQ widersprachen. Glücklicherweise heiterte mich Martin, der neben mir saß, mit nicht ganz zum Thema passenden Anekdoten auf. Dazwischen Kohlepfennig und Agrarsubventionen.
Nach zwei Stunden war endlich Pause.
Martin und mich zog es nach Bölling. Dort, vor der Tür, mussten wir feststellen, dass ausgerechnet heute der vermutlich einzige Tag war, an dem aus irgendeinem Grund geschlossen war.
"Dummköpfe!" hieß es von einer mir wohl bekannten Frauenstimme hinter uns.
Das braunhaarige Wesen entlockte Martin ein Pfeifen und mir die Bemerkung: "Dumm ist, wer im Winter halb nackt herumläuft."
Bevor Esther etwas sagen konnte, ergänzte ich: "Ich bin kein Blödmann."
"Dann eben ein Idiot, „ lachte sie, "was hast du denn hier zu suchen? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen."
"Immerhin bin ich Student. Ich befürchte fast, dass mein Aufenthalt hier legitimer als deiner ist."
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