Am Freitag schellte gegen 17.00 Uhr das Telefon: Esther.
"Bestanden!" jubelte sie, und bevor ich etwas sagen konnte, plapperte sie los:
"In VWL und Finanzen die Vier bestätigt. Rat was ich in ABWL hab!"
"Keine Ahnung, vermutlich was besseres?"
"Ja: Und zwar eine glatte Zwei! Weißt du auch, was er gefragt hat?"
"Doch wohl nicht über Marktabgrenzungen etwa?"
"Doch, genau das. Genial nicht, jetzt hab ich insgesamt ein gutes befriedigend. Gleich wird erst einmal gefeiert. Wenn du Lust hast, kannst du auch kommen, ich muss dir jetzt wohl sowieso etwas spendieren."
Lust auf Abwechslung verspürte ich schon. Da ich aber seit einer Woche ein braver Examinand war, der zwischen Büchertürmen und Blätterhaufen lebte und nur selten seine Klause verließ, hielt ich es für notwendig, ihr abzusagen. Ich verspürte nur geringes Verlangen nach überhaupt einer Ergänzungsprüfung.
"Herzlichen Glückwunsch, erst einmal. Mit dem Feiern tut mir leid. Im Moment kann ich hier nicht weg. Ich wünsche dir aber trotzdem viel Spaß. Lass dich nicht von fremden Männern ansprechen, die könnten böse Absichten haben."
"Blödmann! Ich bin jetzt Diplom-Kauffrau und kann auf mich selber aufpassen..."
"Konntest du das vorher nicht?"
"Oberblödmann! Noch ein Wort und du kriegst von mir nichts mehr ausgegeben!"
"OK! Das überzeugt mich. Also noch mal: Viel Spaß, und tschüs."
"Also bis demnächst. Ich erzähl dir dann von meiner heutigen Nacht, und tschüs"
Bevor ich ihr das dritte Mal "viel Spaß" wünschen konnte legte sie schnell auf.
Heute gönnte ich ihr das letzte Wort. Außerdem war ich froh, dass sie nun alles geschafft hatte.
Mein Leben im November als Worcoholic missfiel mir. In den nächsten Wochen fragte ich mich mehr und mehr, wie es Hieronymus Zeit seines Lebens in seinem Gehäuse ausgehalten hatte. Mein tägliches Pensum von 80 bis 100 Seiten begann mich rasch zu langweilen. Besonders penetrant: Kein einziger Schritt mehr ohne Literatur. An Tisch und Bett, in Auto und Bus, in der Mensa, bei der Arbeit, beim Putzen, beim Kochen, beim Essen, beim Biertrinken, beim Fernsehen, beim Duschen, beim Einschlafen, einfach bei allem, wobei eine Hand frei war, begleiteten mich die Bücher, und wenn keine Hand frei war, resümierte ich in Gedanken das gerade Gelernte. Und nachts, wenn ich schlief, träumte ich davon.
Wenige willkommene Abwechslungen waren das wöchentliche Kaffeekränzchen schräg gegenüber bei Miriam und die vereinzelten Anrufe Esthers. Sie hatte nun ihre nächste Lebensaufgabe gefunden, die Planung ihrer Examensfeier mit Harald Köhler. Ein ausgiebiges Thema.
In der Mitte des Monats kündigte ich bei meiner Autovermietung, vorsichtshalber mit der Option, im nächsten Jahr wieder einsteigen zu können. Ein bisschen hatte ich den Eindruck, dass Paule mich vermissen würde, er regte sich gegen seine Gewohnheit nicht einmal auf und wünschte mir ehrlich viel Glück.
Eine weitere "Abwechslung" war die montägliche Wifipo AG bei Christoph. In der vorausgehenden Woche dachte man bezüglich natürlicher Monopole, externer Effekte, Informationsasymmetrien, in Anpassungsmängeln und Irrationalitäten, sowie in der neuen politischen Ökonomie und in Wettbewerbsrecht und -theorie Experte zu sein. Außerdem begann man sich unter dem ökonomischen Liberalismus und der Versorgung mit Kollektivgütern etwas vorzustellen. Und man war stolz auf sich, etwas verstanden zu haben. Doch all dieses nutzte ab montags wenig: In angenehmer Viererrunde wurde man bei Kaffee und Kuchen zunächst irritiert und dann am nachfolgenden Dienstag in unangenehmer Großrunde bei Fechti zum Deppen degradiert.
Anfang Dezember, an einem nasskalten Tag mit Schneeregen, stand unsere Nummer mit den Verfassungstheorien auf dem Programm. Bei der Generalprobe am Montag konnte ich dank meines Lospeches zum (noch) mäßigen Ärger der anderen die Rolle des kritischen Intendanten übernehmen. Am Dienstag übernahm der Doktor persönlich diese Funktion.
Martin Haim hielt den ersten Monolog zum Komplex van Hayek. Ich machte mich auf einem Logenplatz in der letzten Reihe neben Michaela Assmann breit und tat so, als ob mir die Referenten völlig fremd wären.
"Warum machst du denn nicht beim Vortrag mit? Ihr seit doch eine AG, oder?" musste sie unbedingt laut hörbar wissen. "Weil ich es drauf habe", fiel mir pauschal Paules Spruch ein, wobei gerade der mich bis vor zwei Wochen täglich drei bis viermal genau daran zweifeln ließ.
Volker Steinhoff war der Hauptdarsteller des zweiten Aktes zum Fall Buchanen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger gab es keine Standing Ovations. Herr Fecht erhob sich zum Antagonisten und bestand darauf (meines bescheidenen Wissens nach) im Widerspruch zu jeglicher in der Literatur vertretenen Meinung, dass eine hypothetische Quantifizierung von definitiv nicht quantifizierbaren Kostenfunktionen in public choice Modellen nicht sinnvoll wäre. Weiterhin wehrte er sich entschieden gegen die Ausführungen bezüglich der Rawlschen Urabstimmungssituation unter dem Aspekt der mangelnden Betonung der fehlenden Kenntnis bzw. Unkenntnis der Stimmberechtigten hinsichtlich der potentiellen Szenarien.
Derweil fragte ich in der hintersten Reihe Michaela, ob sie mit Bettina Claas in der letzten Zeit Kontakt gehabt hätte, da ich sie die letzten zwei Wochen nicht gesehen hatte. Martin hatte mir nämlich gestern eine Kopie der nun doch veröffentlichten ÖV-Literaturliste mitgebracht, und meine Grundstudiumszeit kam mir ins Gedächtnis. Bettina wäre nicht die erste Kommilitonin, die von einem zum anderen Tag verschwunden gewesen wäre.
Michaela meinte, letzte Woche mit ihr gesprochen zu haben. Sie, die Frauen, würden sich nämlich auch in einer AG, mit zwei anderen (Herren), mit denen Bettina bereits im Sommer zusammen gelernt hätte, für Wifipo vorbereiten.
Wer das wohl sein sollte?
Volker tauschte sichtlich erregt nach seinem Disput mit dem Mann vom Fach in der ersten Reihe mit Christoph den Platz, wo er mit Martin die Debatte fortsetzte. Fecht erbat sich, mit gezielt bösem Blick auf ihn, unbedingte Ruhe für den letzten Referenten, der hoffentlich weniger Fehler machen würde.
"Zuerst möchte ich meinen Standpunkt darstellen, danach stehe ich gerne für Fragen und berechtigte Kritik bereit", begann Christoph. Eine gelungene Einleitung. Das Publikum klatschte, Fecht meinte, er solle zum Thema kommen.
In seiner Galanterie ignorierte er die Eingangsbitte einfach. Keine drei Minuten bis zum ersten Einspruch. Danach durfte Christoph ungefähr fünf Minuten weiter sprechen. Aus dem von uns als Gruppendiskussion konzipierten Beitrag wurde ein Vortrag des Meisters. Glücklicherweise konnte oder wollte niemand mehr zuhören, da die allgemeine Proteststimmung von einer Aufbruchstimmung abgelöst wurde. Zum Schluss blubberte er den obligatorischen Hinweis auf die Klausur, die ohne das gerade Angeführte unlösbar sei.
"Ja dann viel Spaß", sagte ich zu Michaela.
"Nehmt das ja nicht persönlich", meinte sie beschwichtigend.
Eine Viertelstunde später versammelten wir uns zur Abschlussbesprechung bei Bölling. Andrea Reimann, die sich inkognito unter die Zuhörerschaft gemischt hatte, fragte, ob das jedes Mal so ablaufen würde und nahm Christoph mitleidig in ihre Arme. Michaela fand es heute im Vergleich zu anderen Veranstaltungen eher harmlos und wollte sogar weitere Einzelheiten zum Thema wissen. Vier unmissverständliche Blicke richteten sich auf ihr hübsches Gesicht, worauf sie die Einzelheiten doch nicht mehr so interessierten. Bevor sich drei Blicke auf mich richteten, bot ich ihr an, mich in die Bibliothek zu begleiten, was sie vorsichtshalber tat.
Am Abend lockte mich das vertraute Klingeln meines Telefons unter einem faszinierend nach VWL duftenden Papierhaufen hervor: "Hallo, Bettina Claas hier, deine ÖV AG. Es gibt interessante Neuigkeiten", meldete sich zu meiner Überraschung die Vermisste.
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