"Glaube ich nicht. Ich habe die Einladungen für meine Examensparty kopiert, was du erstmal schaffen musst. Du bist aber jetzt der erste, den ich einlade."
Darauf drückte sie mir einen Seidenumschlag mit meinem Namen in die Hand und verschwand, Martin mit ihrem sündigsten Schlafzimmerblick anhimmelnd: "Du bist natürlich auch eingeladen."
"Wer war denn das?"
"So was ähnliches wie Verwandtschaft."
Wir gingen zum Institut zurück. Oben in der Bibliothek, in der das Seminar stattfand, traf ich Betti in den Katalogen wühlend.
"Schaust du nach ÖV?"
"Ja, ich hab dir doch gesagt, dass ich kaum was habe", erwiderte sie etwas verlegen auf ihre Liste schauend.
"Haben Sie die zweite und dritte Seite der Liste gar nicht bekommen?" stand plötzlich Korte zwischen uns.
Betti blickte mit offenem Mund auf.
"Ich habe mich schon gewundert, dass das nur so wenig ist, ich fühle mich richtig unterfordert", konterte ich und versetzte ihm einen Rippenstoß.
"Kommt, es geht weiter", grinste er und entschwand Richtung Brötchenbuffet.
Zu Betti sagte ich: "Wenn du magst, kannst du den Kram von mir bekommen, dann brauchst du dir nicht alles einzeln zusammenzusuchen."
"Wirklich?" Fragte sie in einer einmaligen Mischung aus Unglauben und Ängstlichkeit.
"Klar, ich bring dir das morgen ins Seminar bei Fechti mit."
"Das ist lieb“, meinte sie, überlegte einen Moment und sagte: "Ich habe aber erst am Abend Zeit, darf ich mir das auch bei dir zu Hause abholen?"
"Wenn du meinst, meine Adresse hast du ja. Jetzt komm aber!"
Erleichtert fragte sie auf dem Weg zu unseren Plätzen: "Willst du nicht herüber kommen, neben mir ist noch frei? - Weißt du, dem Kasper Korte hätte ich gar nicht soviel Humor wie eben zugetraut", kicherte sie weiter.
Part two der Sitzung wurde neben Betti richtig angenehm. Der offizielle Teil mit den Subventionen wurde bald durch eine nette Plauschrunde mit Ministerbeteiligung abgelöst. Bettis Sarkasmus ließ sogar die Penetranz des JUlers komisch erscheinen, der großen Wert auf eine wortlautgetreue Erörterung eines Zitats des Bundespräsidenten im Rahmen einer Chilereise legte. Die zweite Runde Krombacher (bereits etwas abgekühlt) sorgte für weitere Gemütlichkeit. Lediglich die kulinarische Seite ließ zu wünschen übrig. Rein zufällig trafen sich die beiden Brötchentabletts vor Korte und Schwarz, die fleißig um die Wette futterten. Betti zählte fünf zu vier für Schwarz und wettete, dass der Kasperkopf mit dem letzten Käsebrötchen den Ausgleich schaffte. Zwanzig spannungsgeladene Minuten warteten wir bis bei einem der Hunger über den Anstand siegte. Dann zeigten sich die wahren Charaktere. Schwarz war es, der unter dem Jubel der Menge, dessen Ausmaß ihn ungemein irritierte, seinen Sieg perfektionierte.
Insgesamt war es ein netter Nachmittag geworden. Nach der Veranstaltung schwatzten wir fast eine Stunde vor dem Institut in verkleinerter Runde weiter.
Am nächsten Tag stand wieder einmal das Special-Seminar auf dem Programm, das sich diesmal von seiner angenehmen Seite zeigte, da der große Meister nicht da war.
Abends gegen 17.00 Uhr tauchte Betti mit ihrem "Hallo, Till" vor meiner Tür auf.
Kritisch musterte sie meine Einbauküchenvorrichtung und schaute sich den Rest meiner Räumlichkeiten an. Von meinen Büchern war sie begeistert: "Toll", kommentierte sie und fing an, einzelne Stücke zu studieren. Den "geteilten Himmel" von Christa Wolff (ich erinnerte mich an eine meiner ermüdensten Schullektüren) wollte sie immer schon mal gelesen haben. Nach einer Weile überraschte sie mich mit der Frage, ob ich als Leistungskurse im Abitur Kunst und Geschichte gehabt hätte, womit sie fast richtig lag. So erzählten wir uns gegenseitig von unserer Schulzeit und unendlich vielen Dingen mehr.
Sie kam aus der Nähe von Kassel, vom Dorf, wie sie es bezeichnete und war umso erstaunter, dass ich den Ort kannte. Geboren war sie in Göttingen, kurz bevor ihr Vater seine Promotion in Jura abgeschlossen hatte. Später hatte sie in München gelebt und sogar einige Jahre in der Schweiz, bevor ihr Vater eine Geschäftsführerposition in Kassel bekam.
Meinen Lebenslauf fand ich dagegen langweilig, da es mich räumlich nicht allzu weit herumgeführt hatte. Mit meinen ersten Jahren in der Ruhrpottmetropole Dortmund und meiner Jugend in einem kleinen Kaff zwischen Münster und Dortmund fürchtete ich etwas kläglich dazustehen. Dafür konnte ich von interessanten Urlaubsreisen und Aktivitäten wie Outdoor-Trecking und Kartfahren berichten.
Sie hatte ein Faible für Kindheitsgeschichten. Eine ihrer ersten Urlaubsfahrten hatte sie an die Nordsee geführt. Leider nur für ein paar Tage, da sie und ihr einige Jahre jüngeres Schwesterchen der Erwachsenenwelt eher negativ aufgefallen waren. Eigens wurde für die Kleinen ein Nutellaglas beim Frühstück mitgedeckt, und diese hatten, statt aus Dankbarkeit besonders liebe Kinder zu sein, nichts besseres zu tun, als die Tischdecke mit ihren Nutellafingern als Servierte zu missbrauchen. Ein Riesenskandal.
Auf jeden Fall schien Bettis erster Urlaub für sie im Gegensatz zu mir heute weniger amüsant gewesen zu sein.
Draußen war es mittlerweile dunkel. Als ich die Vorhänge zuzog, erinnerte ich daran, dass sie eigentlich kopieren wollte: "Wahrscheinlich hat der Copyshop jetzt sowieso schon zu", vermutete ich, und wir versanken erneut in der Vergangenheit.
Sie saß auf meinem Bett. Ihre Schuhe hatte sie mit der Zeit ausgezogen und nebeneinander davor abgestellt. Mit beiden Händen hielt sie ihre Tasse mit Tee und erzählte munter vor sich hin. Ich hatte es mir dicht neben ihr auf meinem Drehstuhl bequem gemacht und versorgte uns ab und an mit neuen Getränken. Dabei legte sie irgendwann ihr Füße auf meine Knie.
Als sie fahren wollte, war es weit nach acht Uhr.
Ich sagte ihr, dass sie die Sachen bis morgen mitnehmen könnte, und während sie im Flur stand und endgültig los wollte (es dauerte fast 5 Minuten bis sie zur Tür gekommen war) schlug ich ihr vor: "Wenn du früh hier bist, können wir zusammen frühstücken."
Sie lächelte: "Gerne, tschau, bis dann", und entfernte sich zum Treppenhaus.
Während ich ihr nachschaute, dachte ich, ob ich jetzt vollkommen blöd sei und nichts Wichtigeres zu tun hätte als diesen wandelnden Meter zum Frühstück einzuladen. Allerdings musste ich zugeben, dass ich nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn sie länger geblieben wäre. Sie war mir richtig sympathisch geworden.
Den Rest des Tages quälte ich mich durch einen 15 Seiten Aufsatz über Subventionspolitik, der nicht allzu viel Sensationelles hergab. Außerdem war ich unkonzentriert, meine Gedanken kreisten in meiner und Bettis Lebensgeschichte. Gegen 23.00 Uhr entschied ich mich für eine Dusche und danach für mein Bett.
Lange lag ich wach. Ich erinnerte mich an meine Semestervorsätze. Da war etwas von einem geregelten Privatleben mit fester Beziehung gewesen, und je länger ich darüber grübelte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich mich im Grunde einsam fühlte. Aber wer war die Richtige?
Bilder von Frauen, die in meinem Leben eine Rolle spielten oder gespielt hatten, kamen in mir hoch. Meinen äußeren Ansprüchen entsprach ohne Zweifel momentan Michaela Assmann als erstes. Obwohl ich sie einerseits nett fand, hielt ich sie andererseits für etwas komisch. In der Zeit, in der ich sie kannte, hatte ich mich fast ausschließlich über Universitätsinternes mit ihr unterhalten, über ihr Privatleben wusste ich rein gar nichts. Möglicherweise gab es ja jemanden in ihrem Leben, der ihr mehr als jeder andere bedeutete. Ich wusste es nicht, dachte aber, dass es schön sein müsste, wenn sie jetzt neben mir läge und meine Brust als Kopfkissen benutzte, und ich den Geruch ihrer braunen Locken einatmen könnte. Vorsichtshalber verdrängte ich diese Illusion und erinnerte mich an die zierliche Tatja aus Budapest, mit der ich meine letzte Liebesnacht verbracht hatte.
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