Nach dem Seminar versammelten wir uns, die wir durch das Wahlfach ÖV und die Examenstermine miteinander verbunden waren. In der nächsten Woche würden Christoph Mattern, Volker Steinhoff, Martin Haim und ich beginnen, die Verfassungstheorien zu beleuchten. Darauf die anderen 11 Themen und darauf die drei Gliederungsschemata. Michaela würde damit in den nächsten Minuten beginnen, da sie schon verschwunden war. Bettina Claas wollte wenigstens ihren Informationsstand bezüglich ÖV ausdehnen, weshalb sie mich beiseite zog und Richtung Institut für Finanzwissenschaften schob.
Als zuständig erwies sich ein Assistent namens Stefan Korte, mit dem ich aufgrund meines Engagements für dieses Institut sehr gut bekannt war. Glücklicherweise blieb mir Kollege Schwarz erspart, der mir seit der Betreuung meiner Hausarbeit, nett ausgedrückt, ein Dorn im Auge war.
Herr Korte war der Ansicht, dass wir uns nicht verrückt machen lassen sollten. Er hätte sich mit dem Problem Klausur bisher gar nicht beschäftigt, wollte das zwar in den nächsten Wochen tun, aber bis Ende Februar wäre ja Zeit. "Oder?" vergewisserte er sich. Ihn interessierte vielmehr ob Bettina und ich eine Arbeitsgemeinschaft bildeten und warum Martin Haim nicht dabei war, der seines Wissens dritter im Bunde wäre.
Aus Bettinas Mund sprudelte zu der ersten Frage ein entschiedenes "ja", zu der zweiten die energische Feststellung, dass Martin sich alleine vorbereiten wollte, wovon ich das erste Mal in diesem Moment hörte.
Als wir beide wieder draußen waren, begann sie sich über Korte aufzuregen. Besonders unverschämt fand sie, dass er nicht einmal den Klausurtermin kannte. Außerdem hätte er schlechte Manieren. Als sie vor kurzem bei ihm war, hätte er ihr nicht einmal einen Stuhl angeboten. Ich meinte, dass ich gewöhnlich sogar einen Kaffee bekäme. Auf jeden Fall hätte es den Kasper überhaupt nicht zu interessieren, wer mit wem zusammen lernt.
Auf dem Weg zu unseren Fahrrädern, die zufällig nebeneinander standen, fingen wir beide an zu lachen. Ich hätte sie jetzt gerne auf eine Tasse Kaffee eingeladen, aber sie hatte es eilig.
"Vielleicht später", lächelte sie und fuhr los. Dabei fand ich sie mit ihren Sommersprossen richtig niedlich.
Am nächsten Tag mischte ich mich unter eine wilde Horde von BWLern, die sich vor einem der unzähligen Marketinglehrstühle tummelte. Ich war in einer Mission im Auftrage Esthers unterwegs, für die ich eine mündliche Prüfung anhören sollte, was ihr selber nicht gestattet war.
Vorsichtshalber postierte ich mich in der Nähe der Falltür der Arena, falls drinnen nicht genügend Ränge für die Schaulustigen vorhanden sein sollten. Zwar gab es keine brüllenden Löwen, aber immerhin einen bösen Professor, der auch äußerst gefährlich werden konnte. Die Tür öffnete sich, und zwei Gestalten mit undefinierbaren Gesichtsausdrücken kamen heraus. Respektvoll wich der Mob vor den überlebenden Gladiatoren zurück. Die beiden hatten von ihrem Publikumsverzichtungsrecht Gebrauch gemacht, wovon sie im Moment nichts mehr hatten, da sie sofort mit Fragen durchlöchert wurden. Ich dachte nur: "Die Armen", und hoffte, dass mir ein solches Spektakel erspart bleiben würde. Als nächstes erschien einer der Beisitzer im Türrahmen und rief die nächsten Unglücklichen auf. Die junge Dame im schwarzen Kostüm und der Herr in der blau-roten Kombination, die unbeachtet von der Meute etwas im Abseits gewartet hatten, traten nun hervor. Dahinter schob sich der Moloch herein. Ich wurde auf ein ausgesessenes altmodisches Sofa gepresst, das eigens für uns nebst ein paar Stühlen aufgestellt worden war. Es gab fünf weitere Stehplätze zu vergeben, der Rest der Fangemeinde musste draußen bleiben.
Als erstes wurden die Namen der beiden Probanden festgestellt und an Hand ihrer Studentenausweise überprüft. Danach die Bemerkung, dass alles einfach sei, wenn man gut vorbereitet wäre. Wovon ja auszugehen sei.
Die erste Frage war inhaltlich tatsächlich nicht schwer: "Wer möchte denn anfangen?"
"Ladies first, wenn sie damit einverstanden sind", wusste der junge Mann sich als Gentleman aus der Affäre zu ziehen.
Das war allerdings für das nächste die letzte Antwort, die er wusste. Seine Partnerin hatte ihm den Vortritt gelassen, worauf er sich über die Problematik der Abgrenzung des relevanten Marktes auslassen musste. Mir fielen dazu pauschal die Trifinischen Koeffizienten ein, und ich glaubte mich an ein Industriekonzept von Alfred Marshall erinnern zu können. Der, der es wissen sollte, wusste dazu nichts. Trotz meines Stolzes unvorbereitet mit gestandenen BWLern konkurrieren zu können, fand ich die Situation beklemmend. Die restlichen Zuhörer schienen das ebenso zu empfinden, da es plötzlich totenstill geworden war.
Der weibliche Prüfungsteil legte sich augenscheinlich eine Antwort zurecht. Doch sie sollte nicht besser davon kommen. Das Wort wurde zwar weiter gegeben, aber die erwarteten Worte waren nicht mehr die gleichen. Letztendlich wusste sie genauso viel wie er, nämlich nichts. Am Ende klärte der neugierige Fragensteller alle Lösungen seiner Rätsel selbst auf, die ich mir eifrig notierte, damit es Esther nicht genauso wie den beiden erginge, die mir irgendwie leid taten.
Mit gemischten Gefühlen wählte ich am Abend ihre Nummer. Am Vortag hatte sie ihre erste Prüfung gehabt. Hoffentlich war sie einigermaßen zurechtgekommen.
"Hallo", erklang es am anderen Ende mit fast weinerlicher Stimme.
"Ich bin es. Geht es nicht gut?"
"Weiß nicht, viel zu tun. Bevor du fragst: Mit dem gestern war ich nicht zufrieden, unter Umständen hat es aber trotzdem geklappt."
"Bestimmt! Ich habe vollstes Vertrauen in dich!"
"Sagst du so."
"Ja, ich muss das wissen, ich weiß schließlich auch das Erfolgsrezept für ABWL (allgemeine Betriebswirtschaftslehre). Aber trotzdem, erzähl erst mal. War es sehr schlimm?"
"Ja!"
"Wirklich?"
"Vielleicht nicht ganz so schlimm. Mittendrin musste ich über seine Schuhe lachen, der Idiot hatte Sandalen an", prustete sie schon Hoffnung versprechender.
Darauf erzählte sie die genauen Einzelheiten. Sie brauchte in diesem Fach eine Vier um zu bestehen, was normalerweise eine Formsache war. Die Einleitungsfragen hatte sie ohne weiteres gewusst, doch danach war sie immer schlechter geworden. Ich meinte, dass sie ja nicht unbedingt mit einer Eins oder Zwei rechnen brauchte, die Vier aber geschafft haben müsste.
Das beruhigte sie ein wenig. Danach teilte ich ihr meine heutigen Erkenntnisse mit und bemerkte nebenbei, dass die beiden in dieser Prüfung auf jeden Fall schlechter als sie gewesen waren, wodurch sie sich fast normalisierte.
"Ich drücke dir dann morgen die Daumen, es wird schon klappen. Viel Glück!" verabschiedete ich mich.
Alles in allem gab mir der heutige Tag zu denken. Was für Noten die beiden am Nachmittag bekämen? Meine Vermutung darüber war mit Unbehagen verbunden. Meine Gedanken an Esther ebenso. Es war unwahrscheinlich, dass sie morgen die gleichen Fragen gestellt kriegte, und ich wusste, dass sie wegen ihrer insgesamt drei Prüfungen nicht allzu gut vorbereitet war. Nächste Woche entschied sich alles. Am Montag ihre dritte, hoffentlich letzte Prüfung, am Freitag die Ergebnisse und bis dahin diese unangenehme Ungewissheit, die jeder Student hasste. Ich war froh, nicht in ihrer Haut zu stecken.
Für mich war die Woche ereignislos.
Am Montag versammelte sich das erste Mal unsere Wifipo-AG. Auf drängen der zwei Herren aus Gievenbeck wurde Christophs Wohnung zum Veranstaltungsort ernannt. Dies erwies sich als kluge Entscheidung, da seine neue Mitbewohnerin eine exzellente Köchin war und uns mehr als ausreichend mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen erfreute. Inhaltlich kamen wir zu dem Ergebnis, dass unsere Verfassungstheorien ein vergleichsweise mageres Thema waren, für dessen Präsentation vier Referenten im Grunde genommen drei zu viel waren. Nach ausgeprägter wissenschaftlicher Analyse gelang es uns dennoch, eine sinnvolle Dreiteilung für den Vortrag zu entwickeln, was eine heftige Diskussion darüber auslöste, wem es zuzumuten sei, auf eine Darstellung zu verzichten. Als wahre Männer von Welt wollten wir uns selbstverständlich alle opfern, weshalb wir das Los entscheiden ließen. Wie das Schicksal so spielte, verlor ausgerechnet ich die Ausspielung, trotz der Leitungsübernahme der Tombola.
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