Mein Nachhauseweg dauerte über eine Stunde. Mein Drehzahlmesser zeigte selten weniger als 4000 an.
Hinterher fiel ich auf mein Bett, in meiner Hand eine Flasche Weinbrand. In der mich umgebenden Dunkelheit die Stimme Humphrey Bogarts: "Es gibt nichts, was ein doppelter Bourbon nicht wieder in Ordnung bringt."
Das würde ich jetzt mit meinem Mariacron ausprobieren und setzte die Flasche an. Das Telefon schellte. Wieder meine Mutter, und wieder nichts mit der Erfolgsmeldung. Sicherheitshalber zog ich den Stecker heraus, um nicht weitere Gratulanten enttäuschen zu müssen. Den nächsten Notentermin würde ich für mich behalten. Ich schaute nochmals in die Flasche. Danach besann ich mich auf meinen Status, schließlich hatte ich soeben eine Diplomhausarbeit bestanden. Zwar nur mit mäßiger Note, trotzdem Grund genug, ein Weinglas für den Weinbrand zu nehmen.
Die Idee mit dem Zweierexamen war in die Kategorie "Unmöglichkeiten" gerutscht. Unter expliziter Berücksichtigung des Faktors Glück hatte ich mit guten Ergebnissen in den beiden freiwilligen und befriedigenden in den restlichen Fächern kalkuliert, was verrechnet mit meiner heutigen Eins oder Zwei gereicht hätte, mich auf eine Stufe mit Leuten zu stellen, deren Namen mit dem Begriff "Genie" in Verbindung gebracht wurde.
Nach dem dritten Glas war mir das alles egal. Meine Gedankenwelt begann sich um wahrhaft abstruse Dinge zu drehen. Als ich das letzte halbvoll gewordene Glas trank (ein wertvolles Viertel landete leider daneben), hatte ich das Bewusstsein, das Unmögliche wahr werden lassen zu können. Darauf schlief ich ein.
Ich war froh, dass Paule am nächsten Tag anrief. Zuvor gab es das erste Mal in dieser Woche Frühstück, was wahrscheinlich durch die zeitweilige Unterbrechung meines Telefons möglich geworden war, eine meiner letzten rational nachvollziehbaren Handlungen der gestrigen Trauerfeier.
Der Arbeitstag brachte nicht die erhoffte Ablenkung. Meine Examensnöte drehten sich mit dem Restalkohol um die Wette. Meine Dienstgespräche mit Michaela Assmann und Christoph Mattern steigerten meine Melancholie. Beide erfreuten sich einer 1,7. Wie Volker Steinhoff abgeschnitten hatte, wollte ich nicht mehr wissen. Sogar Paule merkte, der unter Insidern als waschechter Choleriker gehandelt wurde (ein tieffliegendes Telefon soll den Vogel mal abgeschossen haben), dass ich nicht bei der Sache war und meinte wohlwollend, mich am frühen Nachmittag entbehren zu können, wobei ich redlich bemüht war, meine Weinbrandfahne zu vertuschen.
Ich wurde magisch angezogen von den ehrwürdigen Hallen unserer Uni. Den restlichen Nachmittag verbrachte ich in Bibliotheken und Copyshops und kehrte erst spät abends schwerbeladen mit wertvollen Büchern und Bänden sowie seltenen Aufsätzen und Abhandlungen nach Gievenbeck zurück, wo ich eine Metamorphose in einen braven Examinanden durchlebte.
Kapitel 2 Graue Herbsttage
Ich stand vor meinem Fenster und schaute gedankenversunken auf die Skyline der östlichen Stadtteile Münsters. In meiner Hand eine Tasse mit schwarzem Kaffee. Es war einer der letzten warmen Oktobertage und die Sonne schien direkt in mein Zimmer. Es war ein schöner Tag.
Gleich musste ich los, denn heute war Dienstag, Seminartag, der einzige Tag in der Woche, an dem etwas auf meinem Stundenplan stand. Es war genau eine Woche her, als ich mit meiner abgetragenen Lederjacke und einer verwaschenen Hose direkt von Paule Wagenpark in den Hörsaal einzog. Seitdem war eine Menge passiert, wovon im Moment am wichtigsten war, dass sich das große Mysterium "Examen" allmählich zu konkretisieren begann. In stundenlanger Fleißarbeit hatte ich sämtliche Einzelheiten analysiert, alle Eventualitäten kalkuliert, jegliche Unvorhersehbarkeit berücksichtigt und glaubte nun zu wissen, was auf mich zukam:
An Kompliziertheit unübertroffen war die Wifipo-Klausur. Nicht weniger als vier Professoren tummelten sich auf der Wiese der Aufgabensteller. Die Spielleitung Prüfungsamt war so nett gewesen, diese zu Zweiergespannen zusammenzufassen, was sehr studentenfreundlich war, da man sich bloß für eines dieser Gespanne zu entscheiden brauchte. Meine Wahl stand fest. Aufgrund langjähriger Zusammenarbeit präferierte ich, trotz meiner in diskriminierender Weise verkannten Hausarbeit, das Institut für Finanzwissenschaften. So gelangte ich intelligenterweise in den Genuss von Skaleneffekten zum Fach ÖV. Dabei nahm ich die Kupplung mit den Verkehrswissenschaftlern und den weiteren Kontakt mit dem mir nicht so sympathischen Herrn Dr. Fecht in Kauf, inklusive seines Chaosseminars. Ein weiterer Pluspunkt dabei war nämlich das ausgesprochen reichhaltige Stoffangebot, man wollte schließlich nicht dümmer als nötig sterben.
Es handelte sich um für den unwissenden Probanden ohne erkennbaren Zusammenhang zusammengewürfelte 12 Einzelthemen. Keines mit weniger als 100 Seiten auf der Literaturliste bedacht. Von Studentengruppen zu erarbeiten, weil das Fechti die Arbeit ersparte. Am schönsten an dieser Kombination war, dass zu dem absoluten Spitzenreiter im quantitativen Bereich (was unter dem Wissensdrangargument als positiv zu bewerten war) eine fast lapidare Aufgabenstellung der Finanzwissenschaftler hinzukam.
Hier kursierten drei Entwürfe von Gliederungsschemata mit ungefähr je zwanzig Ordnungseinheiten mit deren Hilfe zu einem aktuellen Thema ein Statement abzugeben war. Das war einfach. Man brauchte nur die 60 Punkte auswendig lernen, täglich FAZ, Handelsblatt, Süddeutsche, wöchentlich Zeit und Welt lesen, und dazu nicht einmal 500 Seiten parat haben. Die Hälfte dieser unbedeutenden Seitenzahl war vermutlich sogar für ÖV relevant, was momentan aber nicht sicher war, da eine Literaturliste für dieses Fach nicht existierte. (Ich mutmaßte, dass die Erstellung von zwei Listen in so kurzer Zeit für ein Universitätsinstitut bei der dort zu bewältigenden Aufgabenvielfalt ein unlösbares Problem darstellte.) Auf jeden Fall erschien die Verbannung jeglichen Finanzstoffes in die Ferne eine geeignete Taktik zu sein, zumal sich dessen Bearbeitung ohnehin in den Arbeitsgemeinschaften anbot, von denen bislang keine angelaufen war.
Die andere große, unter dem Stichwort AVWL laufende, Herausforderung war äußerlich wesentlich unspektakulärer, dafür inhaltlich umso komplizierter. Hier hatte das Themenstellerpärchen wahrhaftig ein gemeinsames Seminar zustande gebracht. Zumindest waren für die nächsten Wochen an bis zum heutigen Tage unbekannten Terminen vier Veranstaltungen geplant, in denen exemplarisch Fallbeispiele gerechnet werden sollten. Wahrscheinlich befürchteten die Verantwortlichen ohne diese Hilfestellung von den Lösungen der Aufgaben zu sehr deprimiert zu werden. Trotzdem beeindruckend.
Eventuell empfahl sich als Beigabe die Vorlesung, der ich letzte Woche als erstes beigewohnt hatte. Da aber die außerordentlich gewissenhaft arbeitende Frau Assmann sich für die Teilnahme daran entschlossen hatte, und es mir beim letzten Mal recht langweilig geworden war, hielt ich es für konsequent, dem Ganzen fernzubleiben. So konnte ich heute Morgen die gesparte Zeit gleich in die Bearbeitung der ersten 50 der insgesamt 1500 AVWL-Seiten investieren.
Nun wartete Meister Fecht auf mich, und ich machte mich frohen Mutes auf den Weg. Weil es draußen so schön war, entschied ich mich für das Fahrrad, die Tour dauerte nicht viel länger als die Busreise. Ungefähr nach einer halben Stunde war ich am Hörsaalgebäude am Stadtgraben. Diesmal so rechtzeitig, dass ich mich neben Michaela setzen konnte, die ich über die Inhalte der vorangegangenen Vorlesung ausfragte, an der ich selber ja so gerne teilgenommen hätte.
Die folgenden 90 Minuten waren dank ihrer Nähe erträglich. Diesmal bekam ich ein Fisherman’s Friend! Nahezu unerträglich war der mich etwas beschämende Umstand, als einziger verschlafen zu haben, dass nicht wie angegeben die externen Effekte sondern die natürlichen Monopole erörtert wurden. Ich hasste Unwissenheit, umso mehr bei Sachen, die ich eigentlich wissen musste. Mein Stundenthema war deshalb, meine Ahnungslosigkeit bezüglich dieser Monopole zu verbergen.
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