»Herbert Kratochvil, ich habe dir unter unmenschlichen Qualen das Leben geschenkt. Ich habe mich aufgerissen, damit du mit deinem Dickschädel in diese Welt gepasst hast. Bedeutet das denn gar nichts? Wenn ich morgen sterbe, würdest du es frühestens in einem Jahr bemerken. So lange müsste ich in meiner Wohnung verfaulen, weil mein Herr Sohn sich einen Dreck um mich schert!«
Herbs Mutter hatte es nie verwunden, dass er von ihr weggegangen war. Dass er sie alleingelassen und ihr obendrein verboten hatte, ihn zu besuchen. Welch Unverfrorenheit! Wie konnte er sich so etwas erlauben? Einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, durfte sie ihn anrufen. Mehr nicht. Und sogar das musste sie ihm auf Knien abtrotzen, sich erniedrigen und ihn darum anflehen. Wie erbärmlich!
»Die Nachbarn würden dich finden und mich dann verständigen, da bin ich sicher, Mutter«, versuchte Herb zu beschwichtigen. Tatsächlich würde sie niemand, der sie persönlich kannte, ernsthaft vermissen oder gar suchen gehen, sollte sie eines Tages nicht mehr keifend im Stiegenhaus des Mietshauses stehen und die Nachbarn beschimpfen. Die Frau war böse und gemein und keiner in ihrem Haus mochte sie leiden.
»Die Nachbarn? Du hast ja keine Ahnung! Im Haus sind schon so viele Türken eingezogen, man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein als alleinstehende Frau. Du musst wieder zu mir kommen. Du musst mich beschützen! Nicht auszudenken, wenn mich einer von denen …!«, sie sprach den Satz nicht zu Ende oder Herb hörte ihn einfach nicht mehr. Die infernalischen Kopfschmerzen forderten seine volle Aufmerksamkeit.
»Wenn du wieder bei mir wohnen würdest …« Sie machte eine kleine Pause, um ihrem Sohn Zeit zu geben, die Vorteile zu bedenken. Herb bedachte gar nichts in der Richtung. Er sehnte sich nach seinem Bett und nach einer ordentlichen Dosis Aspirin.
Sie versuchte es mit der milden, verständnisvollen Tour.
»Ich verzeihe dir. Du wolltest dir die Hörner abstoßen, wie man so sagt. Dir deine Männlichkeit beweisen. Das verstehe ich doch. Ich bin dir auch nicht mehr böse. Wenn du deinen Fehler jetzt einsiehst, wirst du es nicht bereuen. Ich werde dich schon nicht beißen, du musst mir nur versprechen, dass du von nun an ein braver Junge sein wirst.« Er durfte zurückkommen und wieder bei ihr einziehen, wenn er sich zu hundert Prozent unterwarf.
»Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist«, erwiderte Herb ungerührt. »Ich werde nicht wieder bei dir wohnen.«
»Ich meine es ja nur gut!« Sie schluchzte laut auf. Sein Widerstand würde sich in der Säure ihrer Tränen auflösen, die Schuldgefühle würden ihn weichkochen. Weinen war ihre schärfste Waffe. Der hatte er unter normalen Umständen nicht viel entgegenzusetzen.
»Das zieht heute nicht mehr, Mutter! Ich falle auf die Mitleidstour nicht mehr herein. Ich hasse es, wenn du weinst, aber ich werde unter keinen Umständen mehr zu dir zurückkommen!«
Weil auch dieser Plan fehlschlug, geriet sie derart in Wut und begann so laut zu schreien, dass es Herb vorkam, als hielte er sein Ohr direkt an den Schallbecher einer von einem manischen Volksmusikanten geblasenen Trompete. Für einen kurzen Moment zogen sich sogar seine Kopfschmerzen verschüchtert zurück. Sein Gehirn geriet bei diesem Lärm in gefährliche Schwingungen. Die Mutter wollte sich mit aller Macht durch die Telefonleitung direkt in seinen Kopf pressen, sein System sozusagen von innen heraus angreifen.
Plötzlich spürte er, dass etwas in ihn eindrang. Zuerst war es nur ein seltsames Kitzeln, so ähnlich wie Ohrentropfen einen ein wenig kitzeln, sobald die Flüssigkeit in den Gehörgang einläuft. Nicht einmal unangenehm. Herb schaute verdutzt. Er hatte wegen des Überraschungsmoments noch keine vernünftige Theorie parat.
»Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt kriecht mir die alte Hexe in mein Hirn!«
Er schleuderte den Hörer samt Mutter gegen die Wand, sodass er in seine Einzelteile zerbarst.
»Geh raus aus mir«, klagte Herb.
Es dauerte ein wenig, bis er begriff, dass nicht die Mutter, sondern ein Insekt in ihn hineingekrochen war. Es hatte wohl im Telefonhörer gewohnt und war vom Geschrei der Frau in die Flucht getrieben worden. Nun versuchte es, sich in Herbs Gehörgang ein gemütliches neues Nest einzurichten.
Eine Ameise? Eine Spinne? Eine Raupe, die sich an seinem Gehirn satt fraß, bis sie schließlich, in eine fette Motte verwandelt, durch eine seiner leeren Augenhöhlen in die Welt hinaus surrte? Oder vielleicht ein Mistkäfer?
Ein Mistkäfer war denkbar. Herb war nicht eben pingelig, wenn es um häusliche Sauberkeit ging.
»Um Himmels willen! Bitte, bloß keine Kakerlake!« Der widerlichste aller möglichen Gedanken.
Das Tier musste jedenfalls scharfe Gliedmaßen haben, denn was immer es da drinnen anstellte, es tat ziemlich weh. Er befühlte die Ohrmuschel vorsichtig mit seinem Zeigefinger. Blut.
»Es muss heraus! Jetzt. Sofort!«
Herb bohrte seinen Zeigefinger so tief in seinen Gehörgang, wie es nur ging. Vielleicht konnte er es an einem seiner Füßchen greifen und herausziehen oder es mit seinen zu langen, ungepflegten Fingernägeln herauskratzen, wie überschüssiges Ohrenschmalz. Seine Finger waren für dieses Vorhaben allerdings um zwei Nummern zu dick. Selbst mit dem Kleinen kam er nicht einmal in die Nähe seines Widersachers. Er stellte sich vor, wie der verdammte Käfer sich über ihn lustig machte und ihn verspottete:
»Du kriegst mich nicht! Mit deinen Wurstfingern!« Dass selbst ein so niederes Tier nicht die geringste Achtung vor ihm hatte, machte Herb rasend.
Es erzeugte ein unerträgliches, kratzendes Dauergeräusch. Zermürbend, wie eine auf einem Nagel abgespielte Vinyl-Schallplatte, wie ein Song nach der zwanzigsten Wiederholung: Genervt bettelt man den Mann am Plattenspieler um etwas Abwechslung an. Aber er lässt sich in seine Performance nicht hineinpfuschen und bleibt unbeirrt auf seiner Linie.
Herb versuchte sich unter diesen Bedingungen auf eine neue Strategie zu konzentrieren.
»Wasser!« Er tippte sich selbst tadelnd auf die Stirn. »Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Das Ding herausspülen! Das muss klappen.« Er rannte in die kleine Küche, zur Sitzbadewanne, der einzigen Wasser spendenden Quelle in dieser Wohnung. Manchmal auch Behelfspissoir, wenn Herb für den Weg zum Gangklo zu faul oder zu betrunken war. Und heute die rituelle Hinrichtungsstätte dieses unerwünschten Mitbewohners.
»Ich werde dich nicht ersäufen! Das hättest du wohl gerne. So einfach wird dein Tod nicht werden.« Er wollte das Tier noch leiden sehen, bevor er es in die Hölle schickte. Herb nahm das Haarsieb und platzierte es auf dem Abfluss. Die Wanne schien ihm der perfekte Auffangbehälter. Er drehte an den Armaturen, bis er die Wassertemperatur angenehm fand. Dann legte er den Kopf zur Seite und begann mit dem Fluten seines Hörorgans.
»Ein wenig einwirken muss es natürlich. Ha!«, lachte Herb siegessicher. Die richtige Portion Zynismus zur richtigen Zeit. »Warte nur, ich werde meinen Spaß haben mit dir, das verspreche ich!«
Nach einigen Momenten voreiliger Schadenfreude drehte Herb den Kopf ruckartig zurück, weil er hoffte, dass der so austretende Schwall das Tier mitreißen würde. Er malte sich aus, wie es schreiend in den Abgrund der Wanne stürzte und dort um Gnade winselte, weil eine Flucht aussichtslos war.
Aber seine Wünsche blieben ungehört. Nur Wasser rann aus dem Ohr und strudelte langsam in den Abfluss. Kein Käfer blieb im Haarsieb hängen und auch sonst war nichts zu sehen. Herb prüfte jeden Zentimeter. Nichts. Er konzentrierte sich auf sein Ohr. Vielleicht war das Vieh ja wenigstens ertrunken. Ein wenig Hoffnung keimte auf, weil im Moment irgendwie Ruhe herrschte. Sowohl außen als auch innen. Als Herb sich schon daranmachte, die Befreiung von seinem Parasiten mit der letzten im Kühlfach verbliebenen Tiefkühl-Pizza zu feiern, hob der Käfer sein penetrantes Gesäusel von Neuem an. Vielleicht sogar noch gemeiner als zuvor. Als wollte er sagen: »Der zweite missglückte Versuch, hahaha, du kannst es nicht! Du bist ein Versager!«
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