„Sonst noch etwas Mr. Morrison?“
„Nein danke Peter. Wenn sie möchten, können sie meiner Tochter beim Lesen helfen, sie ist wohl oben.“
„Sehr gerne Sir. Doch ich hoffe meine Fähigkeiten als Zuhörer reichen aus, sie wird sicher keine Hilfe benötigen.“
„Ja, da haben sie wohl recht Peter.“
Beiden kam ein Lächeln über die Lippen. William spürte, dass das etwas mehr als eine Hausherr-Butler-Beziehung war, eher so etwas wie Freundschaft.
„Wenn sie noch etwas wünschen, ich bin dann oben bei ihrer Tochter. Mr. Eagle, sehr erfreut.“
Er verbeugte sich kurz aber höflich.
„Freut mich ebenfalls Peter.“
Er ließ die beiden vor dem Kamin allein.
„Nun erzähl William, was plagt dich?“
William nahm zuerst einen Schluck Tee, bevor er zu reden begann.
„Ich denke, ich werde verfolgt und muss für ein paar Tage aus der Stadt.“
„Du wirst verfolgt? Von wem?“
Henry hatte keinen Grund an Williams Worten zu zweifeln. Er hielt ihn für einen sehr intelligenten Mann und keineswegs für senil oder gestört. Zudem kam William das erste Mal zu ihm, um ihn um etwas zu bitten.
„Das kann ich nicht genau sagen. Ich kenne ihre Namen nicht. Ich weiß nur, dass sie hinter mir her sind, weil ich etwas habe, was sie wollen.“
„Und das wäre?“
„Ein altes Siegel.“
„Was ist das für ein Siegel, dass dich dafür jemand verfolgt?“
„Es ist alt, soviel weiß ich. Mein Großvater vermachte es mir und meinte damals schon, ich müsse darauf aufpassen, als ob mein Leben davon abhängt.“
Natürlich erzählte William nicht alles, es würde zu fantastisch klingen und spielte für Henry auch keine Rolle. Er wollte auch nicht, dass sich sein Freund zu sehr mit hineinsteigert.
„William, willst du damit nicht zur Polizei gehen? Hast du das Siegel dabei, kann ich es einmal sehen?“
„Nein Henry, die Polizei würde mir nicht glauben oder gar helfen. Ich habe es auch nicht dabei, es ist … sicher aufbewahrt.“
„Hast du sie schon gesehen?“
„Nein, nicht gesehen, eher gespürt.“ Von dem Angriff wollte er nichts erzählen. Er befürchtete, Henry würde dann sofort zur Polizei rennen.
„Woher weißt du dann, dass jemand hinter dir her ist? Und was meinst du mit gespürt?“
„Es … es ist ähnlich wie damals in Deutschland. Albträume in der Nacht und dieses ständige Gefühl verfolgt zu werden. Ich sehe sie in jedem Schatten. Sie sind da Henry … ich weiß es…“ Wieder die zitternden Hände.
„Schon gut William, ich glaube dir. Aber was ist damals eigentlich passiert, dass du nach Amerika gekommen bist?“
„Ich musste flüchten. In Deutschland hatten sie mich gefunden und ich bin ihnen nur um Haaresbreite entkommen. Meine Frau hatte nicht so viel Glück. Und nun weiß ich, dass sie wieder auf meiner Spur sind.“
„Beruhige dich William, hier in dem Haus bist du sicher.“
Er war nirgends sicher, das war ihm bewusst. Sein Herz pumpte wie nach einem Hundertmetersprint. Sie konnten sogar schon vor Henrys Tür stehen.
Es mühte William, die Tasse an seinen Mund zu führen, ohne etwas zu verschütten. Nach einem weiteren Schluck Tee ging es jedoch wieder und sein innerer Aufruhr nahm etwas ab. Henry betrachtete ihn sorgenvoll.
„Ich muss erst einmal raus aus dieser Stadt, weg von ihnen, mich verstecken. Kannst du mir helfen Henry?“
„Natürlich kann ich dir helfen. Aber willst du nicht lieber ein paar Tage bei mir unterkommen? Die Gästezimmer sind alle frei und ich brauch die nächste Zeit auch nicht in die Firma.“
„Nein, ganz aus der Stadt raus. Früher oder später würden sie mich auch hier finden und du und deine Familie wären ebenfalls in Gefahr.“
„Dann bleib wenigstens eine Nacht und erzähl mir heute Abend die ganze Geschichte.“
„Nein, besser nicht. Tut mir leid Henry aber ich will die Stadt sofort verlassen.“
Henry spürte, dass es keinen weiteren Sinn machte, William aufhalten zu wollen. Helfen wollte er ihm jedoch um jeden Preis. So aufgeregt wie er war, musste es ernst sein.
„Schon ok William. Du kannst unsere Jagdhütte, oben im Kettle Moraine Forrest haben. Du hast kein Auto oder?“
„Nein, habe ich irgendwann verkauft. Brauchte bisher in Chicago kaum eins.“
„Gut, dann nimmst du den Audi, der ist aufgetankt. Ich hol dir gleich die Schlüssel.“
Er verschwand im Flur. Es war nur einen Augenblick, doch William wurde beinahe verrückt durchs Warten. Als Henry zurückkam, folgte ihm Luci herein. Sie lief geradewegs zu Williams Sessel.
„Onkel William, bleibst du heute bei uns und liest mir weiter vor? Ich hab schon drei Seiten selbst gelesen.“
Sie kletterte auf Williams Schoß und hielt ihm das Buch hin.
„Tut mir leid kleine Luci aber ich muss sofort aufbrechen. Aber wenn ich wieder da bin, lese ich dir das ganze Buch vor, oder ein anderes, solltest du dieses hier schon beendet haben.“
„Versprochen?“
Sie sah ihn mit großen Kinderaugen an, Augen, denen man keinen Wunsch abschlagen kann. Wenn man sie ansah, würde man sogar für sie lügen, sodass der Baron Münchhausen daneben wie ein Heiliger wirken würde.
„Ja, versprochen.“
Das zweite Versprechen an diesem Tag, dass er nicht halten konnte. William hob Luci sanft von seinem Schoß und auf den Boden, dann begann der Abschied. Luci weinte und riss William fast mit, doch er konnte die Tränen abermals unterdrücken.
Wenige Minuten später fuhr er mit dem Auto fort. Zuerst in ein Internet-Café, er musste noch Emails versenden. Darauf zu einem weiteren Freund, den dritten Gefallen zu erbitten. Egal wohin er fuhr, die Angst begleitete ihn stets und er war immer in Eile.
Als er wieder zum Auto zurückkehrte, versteckte sich die Sonne bereits hinter den Wolkenkratzern. Im Schatten der Häuser sah William Gestalten auf sich zueilen. Sie hatten ihn wiedergefunden. Würden sie ihn diesmal erreichen, könnte er ihnen nicht mehr davonrennen. Er hastete ans Steuer. Seine Finger zitternden so stark, dass er Probleme hatte, den Schlüssel einzuführen. In der Hektik ließ er zudem den Motor zunächst absterben. Erst der zweite Versuch gelang und er fuhr mit quietschenden Reifen los. Eine Sekunde später und sie hätten ihn eingeholt.
Doch er hatte seine Verfolger einmal mehr hinter sich gelassen. Es war denkbar knapp. Wie oft würde er noch dieses Glück haben? Er hoffte, im Wald, weit außerhalb der Stadt, würden sie ihn nicht so schnell wiederfinden.
Sehnsucht
Lena Weiß hatte vor Kurzem ihr Studium beendet und war seit dem in einer Schule in Engelskirchen – einer kleinen Stadt nahe Köln - als Religionslehrerin angestellt.
Ihr Arbeitstag war vorüber. Am Abend saß sie an ihrem Schreibtisch und korrigierte einige Leistungskontrollen der 8b. Eine Vier war darunter. Sie war fest entschlossen, diese am Ende des nächsten Schuljahres mindestens zu einer Drei werden zu lassen.
Sie liebte die Arbeit mit den Kindern. Während andere Lehrer nur ihren Stoff runterleierten, sprach sie auch mal in den Pausen mit den Schülern und bot ihnen freiwillige Nachhilfe an.
Sie schob den Stapel Arbeiten beiseite und ging in ihr Badezimmer. Es war Zeit sich für heute Abend hübsch zu machen. Eine Verabredung stand an, die Dritte mit Simon. Seit ihr Exfreund mit ihr Schluss machte, waren solche Ereignisse rar geworden. Lange Trauerphase, Stress im Studium und ihre Mutter war ein halbes Jahr lang krank gewesen. Doch jetzt hatte sie wieder Zeit. In der Schule lief es besser (einfacher) und Freizeit gab es genügend. Sie war jung – gerade einmal 24 Jahre alt – und lenkte mit ihrem Aussehen einige Männerblicke auf sich – nicht nur durch ihre feuerroten Locken. Natürlich schauten viele nur auf ihren üppigen Vorbau oder ihre netten Rundungen des Hinterteils. Doch Simon war anders, darauf hoffte sie zumindest. Kennengelernt hatte sie ihn zwei Wochen zuvor bei einem dreitägigen Schulausflug. Ziel war eine Jugendherberge im Sauerland. Begleitet hatte sie die 7a. Die Herberge bot Platz für mehrere Klassen. So auch die von Simon, der an einer anderen Schule als sie unterrichtete, in Wiehl, einem Nachbarort von Engelskirchen. Den ersten Kontakt hatten sie in der Kantine der Herberge. Als sie sich von ihrem Platz, einer langen Sitzbank, erhob und ihm beinahe das Tablett mit der Schulter aus der Hand schleuderte. Sie entschuldigte sich sofort und zusätzlich nach dem Essen. Daraus entstand das erste wirkliche Gespräch zwischen den Beiden. Am Ende ihres Ausflugs verabredeten sie sich gar zum ersten Mal für das kommende Wochenende. Da alles prima lief, gab es ein zweites Date und nun würde sie ihn erneut sehen.
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