William versuchte, sich an der Bordsteinkante des Gehwegs festzukrallen. Doch außer blutigen Fingerkuppen erreichte er nichts. Ein weiterer Schrei vor Schmerzen blieb ihm im Hals stecken. Gleich drei seiner Fingernägel brachen zur Hälfte ab, als sie über den harten Steinboden kratzten.
„William, wir haben dich.“ Sie klangen amüsiert, während sie ihn langsam in die Gasse zurückzogen. William erkannte sofort diese kratzige, beinahe flüsternde Stimme wieder. Dabei war er sich nicht sicher, ob sie wirklich mit ihm redeten oder er sie nur in seinem Kopf hörte.
Die Erinnerungen an seinen letzten Tag in Deutschland schossen an seinen Augen vorbei. Dann wurde es plötzlich hell. Der Bus, den er nehmen wollte, war vorgefahren. Es musste ein Ersatzfahrzeug sein, denn das Ding sah aus, als hätte man es den Achtzigern gestohlen – eine glänzende, silberne Lackierung. Sie reflektierte die Sonne. Sie blendete ihn. Das war ihm allerdings in diesem Moment auch egal. Seine Feinde hatten ihn und schon bald würde er keine Probleme mehr haben. Doch dann merkte er, dass sich ihr Griff gelöst hatte. Auch sie mussten von der grellen Reflektion erfasst worden sein.
Egal was, William nutzte den Augenblick. So schwer es ihm auch fiel, es gelang ihm, sich aufzurichten und zum Gehweg zu sprinten.
Diesmal nicht, war sein erster Gedanke, als er schließlich die Fullerton-Avenue erreichte und ihm die Sonne ins Gesicht lachte. Er spürte, sie hatten sich vorerst zurückgezogen. Seine blutigen Hände wischte er an seinem Taschentuch ab. Diese und ein Paar schmerzende Knie hatte der Angriff hinterlassen. Es hätte weitaus schlimmer enden können.
Wenigstens bist du pünktlich, dachte er und stieg in den Bus ein. Auch den Fahrer kümmerte Williams abgehetztes Erscheinungsbild nicht. Nur ein weiterer Kunde, der den Bus fast verpasst hätte.
Die Türen schlossen sich und William konnte zumindest für den Moment einmal durchatmen. Er hoffte, er könnte nun noch ein paar Gefallen einlösen und dann die Stadt verlassen. Ihm war jedoch bewusst, sie könnten ihm jederzeit erneut auflauern.
Die Mittagszeit war angebrochen und das Madelaine's war voll. Die Gäste wechselten wie in einer Straßenbahn. Nur einer blieb immer noch an Ort und Stelle, Jack „Daniel“ Harsen. Mittlerweile lag wenigstens sein Kopf nicht mehr auf dem Tisch. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren verblasst und sein Blick klar.
Er las Zeitung – jemand hatte sie auf einem der Nachbartische liegen lassen – und ab und zu nahm er einen Bissen von seinem Sandwich. Alles in allem, sah er nicht mehr so versoffen aus, wie zwei Stunden zuvor. Um diese Zeit hätte er es sich auch nicht mehr gewagt, auf oder gar unter dem Tisch zu liegen. Schließlich mochte er Linda und wollte ihr keinesfalls die Leute verscheuchen.
Lindas Gäste, vor allem die Stammgäste, waren für sie mehr als Einnahmequellen. Dazu gehörte natürlich auch Jack, der schon vor seinem 'Abstieg' fast täglich im Restaurant sein Mittagessen bestellte. Niemals hätte sie ihn rausgeworfen. Einmal bot sie ihm sogar die Couch in ihrem kleinen Büro an, als er eines Morgens volltrunken durch die Eingangstür fiel. Auch wenn Jack nicht mehr viel mitbekam, er wusste, dass Linda ihn immer gut behandelt hat.
Die Inhaberin des Madelaine's stand gerade hinter dem Tresen, während ihre zwei Bedienungen sich um die Tische kümmerten. Die Eingangstür öffnete sich ein weiteres Mal. Von draußen hörte man, neben dem Verkehr und dem Gerede der Leute, die fernen Mittagsglocken der St. Clement Church. Etwas überrascht sah Linda den neuen Gast eintreten. Der Mann, wegen dem William sie vorhin so eilig verlassen hatte. Statt sich einen Tisch zu nehmen, ging er geradewegs auf sie zu.
Was will der denn jetzt wieder hier?
Sie mochte fast alle Menschen, doch dieser Herr war ihr von Anfang an suspekt. Dennoch legte sie ihr bezauberndes Guten-Tag-Lächeln auf und streifte ihre Schürze zurecht. In ihrem Restaurant wurde immerhin jeder wie ein Gast behandelt.
„Hallo, was kann ich für sie tun Mister?“
„Wissen sie, wo ich William finde?“
Seine Stimme war immer noch rau, nur kam jetzt dazu, dass sie ebenfalls ruppig klang. Zudem sprach er so laut, dass er die meisten Gespräche, bis in die hinteren Sitzreihen, übertönte. Damit erregte er das Interesse einiger Gäste, die nun zu den beiden hinübersahen.
„Nein, ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Ich dachte er hätte sich mit ihnen getroffen.“ Ein Nachfragen, ob er wusste, wo William sich aufhielt, schien offensichtlich sinnlos. Dabei dachte sie fortwährend nur an ihn. Ihr Plan, ihn auf der Straße abzufangen, war von William vereitelt worden, da er die Hintertür genutzt hatte.
„Ja, wir trafen uns, aber ich brauche noch etwas von ihm. Können sie ihn erreichen und fragen, wo er ist?“
„Nein, tut mir leid. Kann ich ihnen sonst irgendwie helfen?“
Das war nicht ganz die Wahrheit. Sie hätte bei ihm zu Hause anrufen können, zum etwa zehnten Mal – sie hatte nicht mitgezählt, wie oft sie es schon versucht hatte. Ein Handy besaß er nach ihrem Wissensstand nicht, sonst würde dies auch dauernd klingeln. Diesem Fremden – der, wie sie meinte, eine unheilige Aura ausstrahlte – hätte sie aber dennoch nichts gesagt. Schließlich ist William wegen ihm verschwunden.
Sein Blick fiel auf das große Notizbuch neben der Kasse.
„Sie haben doch sicher seine Nummer, rufen sie ihn an und fragen.“
Dieser Befehlston gegenüber Linda brachte ihm weitere, nun verärgerte Blicke ein.
„Es tut mir leid, aber ich habe seine Nummer nicht.“
Das reichte Edward, er hatte keine Zeit für sinnloses Gerede – er war sich sicher, dass sie log. Er langte über den Tresen und nahm sich das Buch, bevor Linda reagieren konnte.
„Was soll das? Geben sie es zurück!“
Auch für Linda war es nun zu viel. Sie schnappte nach ihm. Da Edward jedoch einen Schritt rückwärts machte, erreichte sie ihn nicht. Sie musste um die Theke herum, während er die Seiten mit den Telefonnummern durchsah. Als sie neben ihm stand, flog ihre flache Hand gegen sein Gesicht. Die Ohrfeige war ihm egal, er zuckte nur leicht mit dem Kopf – man könnte meinen, das war bei Weitem nicht seine Erste. Als Linda nach dem Buch greifen wollte, packte er grob ihren Arm und warf es offen auf den Tresen. Ein Schmerzensschrei hallte durch den Raum. Sie versuchte, ohne Erfolg, seine Hand zu lösen. Entsetzen machte sich breit. Für einen Moment schien es, als wäre die Zeit im Restaurant stehen geblieben. Beinahe alles still, nur im Radio schmetterte Bonnie Tyler einen ihrer Hits.
“ I need a hero,
I’m holding out for a hero ‘til the end of the night”
„Lassen sie sie sofort los“, brüllte George aus mittlerer Entfernung und brach damit das Schweigen. Andere stimmten ihm unweigerlich zu. Edward interessierten diese Rufe jedoch nicht, er war nur mit Linda beschäftigt.
„Da ist seine Nummer, rufen sie ihn an und fragen ihn, wo er ist!“
„Das werde ich nicht tun und nun hauen sie ab!“
Ihr liefen Schweißperlen über die Stirn und sie versuchte weiterhin sich loszureißen, doch Edward packte noch fester zu.
“ Somewhere just beyond my reach
there’s someone reaching back for me“
Als Edward ein weiteres Mal seinen Befehl wiederholen wollte, zog ihn jemand an der Schulter herum. Eine schwache Alkoholfahne blies in seine Richtung, gefolgt von einer Faust, die auf sein Gesicht zuraste. Für wenige Sekunden wurde sein Blick schwarz. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Es strömte aus seiner gebrochenen Nase.
„Das reicht jetzt! Verpiss dich, bevor ich dir noch ein paar verpasse!“
“ I need a hero
Читать дальше