„Ich warte dort auf euch, lasst euch nicht zu viel Zeit Priester.“
Der Mann verließ das Restaurant und begab sich vor Williams Geschäft. Linda sah ihm nach, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf ihren alten Freund, der ihr mit nachdenklichem Blick gegenübersaß.
„Herr William Eagle! Seit wir uns kennen, frage ich dich immer wieder über deine Vergangenheit. Und das Erste was ich erfahre kommt von irgendeinem dahergelaufenen Geistlichen.“
Sie stand vor ihm, die Hände in die Seiten gestemmt. Um ihrem Gesagten Nachdruck zu verleihen, stampfte sie mit dem rechten Fuß einmal auf – so kräftig, wie es einer zierlichen Person wie ihr möglich war. Wie eine erboste Frau die ihren Gatten zur Rede stellen will, weil er wieder Unfug getrieben hat. Vom Gehweg aus konnte man sie durch das dünne Glas hören, doch in einer Stadt wie Chicago interessierte so was niemanden. Jack schnarchte derweilen leise vor sich hin.
„Tut mir leid Linda. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich es dir erklären.“
„Ach, und innerhalb von zwanzig Jahren gab es die nicht?“
Er stand auf und trank seinen letzten Schluck Kaffee. Sein Griff war schwach, zittrig und er ließ die Tasse beinahe aus der Hand fallen.
„Entschuldige, aber ich muss nun rüber.“
„Warum … Warum so eilig? Was ist denn los William, hast du Probleme?“
„Keine die sich nicht lösen lassen.“
Sie atmete hörbar aus, beinahe resignierend, doch nur beinahe. „Sehr aussagekräftig. Wer ist das überhaupt?“
„Ein alter Bekannter.“
„Woher bekannt William? Warst du mal Priester, wie er meinte, oder bist du es sogar noch?“
„Das ist alles lange Zeit her. Wir müssen nur etwas klären.“
„Nach 'nur etwas klären' hörte sich das aber nicht an.“
Eigentlich hatte er es nicht eilig mit dem Geistlichen zu reden. Doch je schneller er ging, desto weniger musste er Linda erklären.
„Ich muss nun los. Tut mir wie gesagt leid Lin‘. Heute Mittag werde ich wohl nicht vorbeischauen können. Wir sehen uns in den nächsten Tagen“, sagte er und sah sie dabei nicht einmal mehr an.
„In den nächsten Tagen?“ Sie riss die Augen weit auf. Ihre Stimme klang nicht nur überrascht, sondern auch traurig. „Seit fast zwanzig Jahren besuchst du mein Lokal morgens und mittags, fast ohne Ausnahme. Und kaum kommt so eine seltsame Gestalt vorbei, kannst du tagelang nicht kommen? Was bedeutet das William?“
Er ahnte, dass er keine Zeit mehr haben würde. Und auch wenn er sich nicht sicher war, ging er lieber vom Schlimmsten aus. Das würde bedeuten, dass er endlich Vorbereitungen treffen müsste. Sie hingegen sah sich nun bestätigt in ihren Vermutungen. Irgendetwas Wichtiges verbarg er vor ihr. Etwas das ihn bedrückte und dies seit Wochen. Ihre größte Angst dabei war, dass er in Schwierigkeiten stecken könnte, die gefährlich für ihn waren.
„Später Linda, nun muss ich aber wirklich in meinen Laden, er wartet.“
„Später … und was wird aus dem Picknick?“
„Das machen wir, versprochen. Danke noch mal für das Frühstück.“
Er verschluckte sich fast bei der Antwort, auch wenn er es wirklich glaubte. Allerdings war dies das erste und letzte Versprechen, ihr gegenüber, was er nicht einhalten würde.
„William, du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast.“
„Ja, das weiß ich, danke.“
Er legte das Geld für sein Frühstück auf den Tisch und begab sich zur Tür. Den Kopf hielt er gesenkt. Er wollte sie nicht mehr ansehen, er konnte nicht mehr. Vor allem konnte er ihr nicht ins Gesicht sehen. Er befürchtete, er würde dann mehr als die eine Träne vergießen, die ihm nun schon im Auge saß.
„Pass auf dich auf William Eagle!“ Am liebsten hätte sie ihn gar nicht gehen lassen. Sie war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und ihn festzuhalten. Aber sie vertraute seinen Worten.
„Einem alten Fuchs wie mir passiert nichts, nur keine Sorgen, wir sehen uns. Mach's gut.“
Doch die machte sie sich, Große sogar. Auch ihr kullerte eine Träne die Wangen hinunter. Es fehlte nicht mehr viel und die Dämme wären bei ihr gebrochen. Es fühlte sich für sie an, als ob dies ein Abschied für immer wäre. Ihr war zumute wie am Sterbebett ihrer Großmutter. So viele Versprechen, was sie noch hätten unternehmen wollen. Und doch raffte sie der Krebs am nächsten Tag endgültig dahin.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, schloss sich die Tür hinter William. Linda beobachtete, wie er auf der anderen Straßenseite, zusammen mit dem vermeintlich Geistlichen, seinen Laden betrat.
Sein Geschäft würde sie den ganzen Vormittag im Blick behalten. Sollte er es verlassen, würde sie zu ihm rüber stürmen und ihn zur Rede stellen. Das nahm sie sich zumindest in diesem Moment vor.
Das Klirren eines Windspiels erklang, als die beiden Männer den Buchladen betraten.
„Was für ein hübsches kleines Geschäft William. Läuft es gut?“
„Gut genug, dass man über die Runden kommt. Lasst uns in mein Büro gehen.“ Nichts lag William ferner als Smalltalk. Er wollte ihn außerdem schnellstmöglich wieder loswerden, bevor er sich bei ihm noch wohl fühlt und öfter vorbeikommt.
„Geht nur vor, ich folge.“
In dem kleinen Zimmer, im hinteren Teil des Ladens, befanden sich ebenfalls unzählige Bücher in den Regalen. Wie hätte es auch anders sein können? In der Mitte stand ein alter Schreibtisch, der wohl nicht viel weniger zu erzählen hätte, als eines dieser Bücher.
Sie setzten sich. Aus der Schublade holte William ein kleines Kästchen heraus. Er entnahm ihm eine Zigarre und zündete sie an, danach hielt er es seinem Gegenüber hin – aus Höflichkeit, nicht aus Freundschaft.
„Auch eine?“ Die Frage klang fast so kühl, wie er es empfand, in diesem Raum zu sitzen. Er fühlte sich in seinem Laden besser als auf der Straße, etwas sicherer. Bei Weitem jedoch nicht so wohl wie in Lindas Restaurant.
„Nein danke, und ihr solltet auch nicht, vor allem nicht in eurem Alter William.“
„Als ob ihr euch Sorgen um mein Alter machen würdet.“ William lehnte sich in seinen Sessel. „Also, warum seid ihr zu mir gekommen?“
„Wirklich nette Büchersammlung, einige Werke sind älter als wir beide zusammen.“ Auch wenn er damit abschweifte, er hatte recht. Die eine oder andere Bibliothek wäre neidisch gewesen. Nicht nur von einigen neueren Büchern standen Erstausgaben in den Regalen. Manche waren aus dem 18. Jahrhundert oder sogar noch älter und hatten einen Wert von mehreren Hundert, wenn nicht Tausend Dollar.
„Hört auf damit, was wollt ihr Edward?“
„Nun … oh, 'Der grüne Heinrich', ein Original?“
„Lasst den Unsinn endlich und sagt mir lieber, warum ihr hier seid.“ Ihm riss allmählich der Geduldsfaden.
„William, warum so feindselig zu einem alten Freund?“
„Freund? Ihr ward es nie und werdet es auch nicht mehr sein. Jetzt sagt, was ihr wollt.“ William wollte diese Farce nicht länger ertragen, als es notwendig war. Seit etlichen Jahren kam Edward ab und zu bei ihm vorbei. Es handelte sich immer um dasselbe Thema.
„Ihr verletzt mich, aber gut. Es überrascht mich auch, dass ihr euch nicht denken könnt, warum ich zu euch komme. Ich vermute jedoch, ihr wisst bereits, dass 'sie' ebenfalls auf dem Weg zu euch sind.“
Scheiße, natürlich wusste er es. Spätestens ab jetzt konnte er es nicht einfach mehr als irgendein dummes ‚Gefühl‘ abtun. Wenn es schon andere außer ihm wussten, war es mehr als ernst und er musste handeln.
„Ja, ich befürchtete es schon. Doch was habt ihr damit zu tun?“
„Das Siegel William. Seid ihr in Gefahr, ist es dies auch. Wir könnten es schützen und euch ebenfalls.“
Читать дальше