„Hören sie, ihr Mann und ich sind seit langer Zeit befreundet. Jetzt habe ich ein dringendes Problem und …“
„Jetzt hören sie mir zu! Ihre Probleme sind nicht die meines Mannes und schon gar nicht die meinen. Wenn sie Hilfe wollen, wenden sie sich an jemand anderen. Jetzt möchte ich, dass sie mein Haus verlassen und mich nicht weiter belästigen.“ Sie wandte ihren Blick zur Tür und wies ihm den Weg mit der offenen Hand.
„Peter, begleiten sie Mr. … den Mann bis zur Straße.“
„William Eagle, schönen Tag ihnen noch.“
William wusste, dass es keinen Sinn machte, mit dieser Frau zu diskutieren. Gleichfalls fragte er sich, wie es sein Freund mit so jemanden an seiner Seite aushielt. Hätte sie ihre Nase noch etwas höher getragen, hätte sie an der Stirn geklebt.
Peter öffnete die Tür und ließ Mr. Eagle vorangehen. Innerlich schämte er sich für das Verhalten seiner Arbeitgeberin, besser gesagt der Frau seines Arbeitgebers. Doch ein gut ausgebildeter Butler wahrte die Neutralität und folgte den Befehlen, die man ihm gab.
Das Wichtigste von Williams Anliegen schien gescheitert. Er brauchte dringendst einen Unterschlupf, ein Versteck. Seine Jäger würden nicht aufhören nach ihm suchen, bis sie ihm das Siegel entrissen hätten. Wahrscheinlich würde er selbst nicht überleben.
Henry war reich und ein guter Freund. Er hätte ihm sicher geholfen. Leider kam William dessen Frau in die Quere und er musste sich etwas Neues überlegen. Vielleicht sollte er doch die Kirche um Schutz bitten, seine allerletzte Möglichkeit.
Die beiden Männer kamen an der Straße an und Peter schloss das kleine Gartentor hinter William.
„Mr. Eagle?“
Peter war nicht entgangen, dass Mrs. Bennett sich schon wieder anderen Dingen widmete oder zumindest den beiden Herren keine Beachtung mehr schenkte. William drehte sich um, in seinem Gesicht sah man viele Sorgenfalten, tief wie der Grand Canyon.
„Ja?“ Seine Stimme demotiviert zu nennen, war weit untertrieben.
„Meines Wissens nach, wird Mr. Morrison …“
„Geschichtenonkel!“, rief eine Mädchenstimme dazwischen. Peter stockte kurz, beendete dann aber seinen Satz: „… bald wieder hier sein.“
Sie hatten nicht bemerkt, wie ein Auto fast neben ihnen eingeparkt hatte, ein silberner Kombi. Ein Mädchen lief bereits auf sie zu. William erkannte sie sofort, Luci Morrison. Auf der Fahrerseite stieg auch schon ihr Vater aus, Henry. William fiel ein Stein – oder auch ein ganzer Berg - vom Herzen. Nie war er so froh, das Mädchen zu sehen, welches ihm schon des Öfteren stundenlang in seinem Laden Gesellschaft geleistet hatte. Ihr Vater brachte sie meist vorbei, wenn er selbst Geschäfte erledigen musste und sie dabei nicht mitnehmen konnte. Ganze Geschichtsbänder hatte er der Kleinen schon vorgelesen. Nun bückte er sich, um sie aus vollem Lauf aufzufangen. Er packte sie unter den Armen, hob sie leicht an und drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe er sie wieder absetzte. Schwerstarbeit für einen alten Mann wie ihn, immerhin war sie schon zehn. Doch sie lachte und das ließ den leichten Schmerz in seinem Rücken gar nicht erst aufkommen. Es vertrieb sogar für einen Moment seine anderen Sorgen. Peter sah erfreut zu. Auch für ihn war das Erscheinen des Hausherren eine Erleichterung.
„Geschichtenonkel, bist du hier, um mir ein Märchen zu erzählen?“
„Nein, tut mir leid Luci, ich habe meine Lesebrille nicht dabei.“
„Das ist aber schade, dann bin ich ganz traurig.“
Obwohl sie auf ihre Schuhe hinuntersah, konnte William ihre vorgeschobene Unterlippe erkennen. Er kramte kurz in seinem Beutel und holte schließlich ein Buch heraus. Das kleine Gespenst.
„Nicht doch, sieh, was ich da habe. Eine neue Geschichte für dich, jemand anderes wird sie dir sicher vorlesen, vielleicht dein Papa.“
Plötzlich wieder glücklich, sah sie auf.
„Oh, danke Geschichtenonkel!“
Sie drückte ihm einen Schmatz auf die Wange und nahm das Buch mit beiden Händen entgegen. Er hatte natürlich an sie gedacht. Dabei war es gar nicht so einfach, eine Kindergeschichte zu finden, die er ihr noch nicht vorgelesen hatte.
„William, Hallo! Welche Freude dich mal bei mir zu sehen. Was verschafft mir die Ehre, dass du mich besuchst?“
William erhob sich und schüttelte die Hand, die ihm Henry reichte.
„Hallo Henry. Ich … ich habe ein Problem und wollte fragen, ob du mir helfen kannst.“
„Ein Freund von mir hat ein Problem? Klar helfe ich, aber lass uns das drinnen besprechen. Wir waren am Lake Michigan wandern und meine Beine sind etwas schwer.“
„Ok, danke.“ Vielleicht musste er nun doch nicht zur Kirche und vielleicht würde er noch ein paar weitere Tage erleben.
„Daddy, liest du mir nachher die Geschichte vor?“ Sie zupfte an seiner Hose.
„Natürlich mein Schatz, aber erst einmal müssen wir uns um Williams Problem kümmern.“
„Ok Daddy“, antworte sie, nicht ganz ohne zu schmollen, obwohl er ihr über den Kopf streichelte.
„Peter, gehst du bitte vor und machst uns einen Tee?“
„Natürlich Sir und willkommen zu Hause.“
Peter öffnete gerade das Gartentor als Luci an ihm vorbeilief, das Buch immer noch mit beiden Händen fest umklammert.
„Ich geh schon rein und zeig Tante Susan meine neue Geschichte Daddy.“
„Mach das Schatz“, rief ihr Vater hinterher. William sah Henry fragend an und dieser verstand sofort.
„Sie akzeptiert meine neue Frau nicht als Mutter, aber immerhin als Erziehungsberechtigte. Das genügt mir schon.“
„Ich verstehe.“
Seine erste Frau starb bei einem Autounfall vor vier Jahren. Der andere Fahrer stand unter starkem Drogeneinfluss, Heroin und anderes Zeug. Er schwankte auf der Fahrbahn hin und her, bis er schließlich frontal auf Mrs. Morrisons Wagen traf. William erinnerte sich noch recht gut an die Zeit, als er Henry und seine Tochter des Öfteren in seinem Laden trösten musste. Zum Glück war das lange her.
Peter folgte Luci ins Haus. Als die beiden drin waren, legte Henry seinem Freund einen Arm um die Schulter und führte auch ihn durch den Vorgarten. Er ahnte nicht, welche beruhigende Wirkung dies auf William hatte.
„Wie geht es dir? Läuft das Geschäft gut?“
„Ja, man kann nicht klagen. Und bei dir?“
„Meine Manager meinen gut. Dem Geld auf meinem Konto nach zu urteilen, haben sie damit wohl auch recht.“
Sie gingen ins Wohnzimmer. Die Inneneinrichtung war natürlich vom Feinsten. Alles Holzmöbel und die Multimediaanlage hatte mindestens den Wert eines Mittelklassewagens. Die ersten Blicke zog jedoch jedes Mal der riesige Kamin auf sich. Davor standen zwei Ledersessel. Henry bot zuerst William einen an, bevor er sich selbst in den anderen fallen ließ.
„Hach ist das schön, endlich daheim und die Beine ausruhen.“
In dem Moment kam auch schon seine Frau ins Zimmer.
„Henry, Herzblatt, schon wieder da?“
„Ja Darling, wir haben nicht den ganzen See umrundet.“
„Wie ich sehe, hast du deinen Freund noch angetroffen. Wie hießen sie noch gleich?“
„Eagle Mrs. Bennet, William Eagle.“
Sie schlenderte um die beiden herum auf Henrys Seite. Ein kurzer Kuss, dann war sie auch schon wieder auf dem Weg aus dem Zimmer hinaus.
„Ich geh noch mal in die Stadt Schatz, bis später.“
„Wo ist Luci Darling?“
„Sie ist nach oben gerannt, hatte irgendein Buch dabei. Sie will 'versuchen' es selbst zu lesen.“
„Ok, dann bis später Susan.“
„Auf Wiedersehen Mr. … Eagle.“
„Auf Wiedersehen Mrs. Benett.“
William zog es vor, nicht zu plaudern und Henry nicht von seiner angeblichen Geschäftsreise zu erzählen. Die Tür schloss sich hinter ihr und auf der anderen Seite des Zimmers ging eine andere auf. Peter kam mit einem silbernen Tablett hinein. Er servierte den beiden Herren ihren Tee auf dem kleinen Abstelltisch zwischen ihnen.
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