Richard nickte trübsinnig. „Jetzt hängt er mir wie ein Klotz am Bein.“
„Dann bring ihn doch endlich um!“ Es geschah nicht ohne Absicht, dass Fritz bei diesem Satz seine Stimme erhob; der Mann am Nebentisch schickte einen irritierten Blick herüber, seine Begleiterin ließ eine Gabel mit Sauerkraut in der Luft stehen und starrte die beiden Männer an.
„Kann ich noch nicht“, meinte Richard. „Ich brauche ihn später noch. Er ist der Einzige, der den Code knacken kann. Irgendwann ist ohnehin geplant, ihn auszuschalten. Aber in der Zwischenzeit … Er stört kolossal!“
„Es schwirren zu viele Figuren rum. Mach einen rabiaten Schnitt, sage ich dir! Kann Walken die Decodierung nicht irgendwo aufschreiben – USB-Stick, CD – am besten unter subtiler, aber wirkungsvoller Folter, das kannst du doch so gut ...“
Die Gabel der Dame fiel auf den Teller zurück, auch der Mann war zum unverhohlenen Gaffen übergegangen.
„... und dann kannst du ihn gleich in die ewigen Jagdgründe schicken und bist ihn endlich los!“, setzte Fritz ungerührt hinzu.
„Hm. Nicht schlecht. Manchmal kann es so einfach sein.“ Richard nahm einen Schluck Apfelwein. „Werde ich mal drüber nachdenken. Ich muss morgen ohnehin im Verlag anrufen, bis dahin habe ich sicher eine Idee, wie ich das bewerkstellige.“
Die beiden am Nebentisch warfen sich einen erleichterten Blick zu. Das nachbarliche Sauerkraut wanderte in den Mund der Dame, ihr Mann widmete sich wieder seinem Handkäs‘ mit Musik , und Friedrich lächelte in sich hinein. Richard hatte von dem kleinen Zwischenspiel nichts mitbekommen, sondern nickte gedankenverloren vor sich hin. „Ja, so könnte es gehen.“
„Und danach machst du erst mal Pause! Die hast du dir verdient.“
Petra rauschte durch das Lokal und stellte ihnen zwei Teller auf den Tisch.
Fritz wedelte den Duft des Sauerkrauts in seine Nase. „Was macht deine Tochter Isabella? Immer noch glücklich mit Ehemann Nummer zwei?“, fragte er betont munter. „Wie hieß er noch mal?“
„Tobias. Ja, der ist in Ordnung. Und die Kleine! Fanny ist der reinste Sonnenschein! Kunststück – mit fünf!“ Er sah den Schatten im Gesicht des alten Mannes und legte ihm sacht die Hand auf den Arm. „Entschuldige, Friedrich“, sagte er leise.
„Keine Angst, ist schon in Ordnung. Ich habe ja damit angefangen.“ Friedrich legte Messer und Gabel beiseite. „Es ist so grauenhaft, wenn ein Kind vor seinen Eltern geht, aber wenn man seinen eigenen Enkel begraben muss … und auf diese entsetzliche Art und Weise ...“ Er stützte unvermittelt das Gesicht in die Handflächen und saß eine Weile stumm da. „Ich weiß nicht, wie Hella das verkraftet hat.“
„Sie hat ihren Andreas.“
Friedrich nahm die Hände vom Gesicht. „Die kleine Fanny hätte meine Urenkelin werden können“, sagte er wehmütig lächelnd und griff wieder zum Besteck.
Richard beobachtete seinen alten Freund besorgt. Das scharf geschnittene Gesicht unter dem kahlen Schädel sah plötzlich älter aus, als es war, die sonst so lebhaften grau-grünen Augen blickten stumpf und müde. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Fritz?“
„Ja, ich bin okay. Liegt sicher an Ralphs zehntem Todestag, dass die alte Geschichte wieder so vehement hochkommt.“
„Ja, an Isabellas Geburtstag.“ Richard drehte gedankenverloren das Apfelweinglas in den Händen, bevor auch er zum Besteck griff. „Sie hat es einigermaßen verkraftet – die Gnade der Jugend: Man sieht leichter nach vorne als zurück.“
„Es gibt noch nicht so viel in der Rückschau zu sehen. – Entschuldige, Richard, ich wollte dir nicht den Abend verderben. Es lässt sich nichts mehr rückgängig machen.“
Friedrich Mommsen hielt vor seinem Haus in der Holbeinstraße, von dem er das Erdgeschoss bewohnte, und ging um seinen Toyota SUV herum, um Sheriff herauszulassen. Er hatte ihn nach dem Treffen mit Richard draußen am Stadtwald noch einmal ausgiebig laufen lassen. Der Hund machte einen Satz aus dem Kofferraum und verfiel augenblicklich auf der breiten Grünanlage in bewegungslose Sitzposition.
Ein spätabendlicher Gassigeher mit zwei bellenden Jack-Russel-Terriern an der Leine hangelte sich im großen Bogen um Sheriff herum, der sich von dem Gekläff völlig unbeeindruckt gab und nur Augen für sein Herrchen hatte. Friedrich hatte nicht übertrieben, wenn er sagte, dass er seinen Liebling fest im Griff hatte; anders wäre der Riese nicht zu handhaben gewesen, schon gar nicht in der Stadt. Der große Wagen war nur eines der Zugeständnisse an den Hund, ein weiteres die Masse an Zeit, die er mit dem Vierbeiner verbrachte, damit dieser genügend Auslauf bekam.
Doch der Stadtwald war nicht weit, und Zeit hatte Dr. Friedrich Mommsen genug.
Er genoss die Gespräche mit seinem alten Freund Richard Immelshausen in den Ebbelwoi-Kneipen der Stadt oder die langen Spaziergänge mit ihm, Sheriff natürlich eingeschlossen. Sie kannten sich schon fast dreißig Jahre, und dieser Bekanntschaft war es zu verdanken, dass Richards Tochter Isabella und sein Enkel Ralph sich kennengelernt und schließlich geheiratet hatten. Dass es nur ein kurzes, tragisches Zwischenspiel im Leben aller Beteiligten bleiben würde, konnte damals keiner ahnen.
Heute war es besonders schlimm mit den vermaledeiten Erinnerungen. Er seufzte tief auf, während er die Haustür aufschloss. Vom geräumigen Vorplatz führte geradeaus eine Holztreppe mit kunstvoll gearbeitetem Geländer nach oben, links ging es durch eine Glastür im Jugendstil zu seiner eigenen Wohnung.
Sheriff blieb abrupt stehen und brummte.
Friedrich schrak aus seinen Gedanken hoch und lauschte nach oben. Die Mieter waren in Urlaub, das wusste er.
Legte das Ohr an seine Wohnungstür.
Nichts.
Das Brummen ging zum Knurren über.
„Still, Sheriff“, flüsterte Friedrich und legte seine Hand um die Hundeschnauze, während die andere kurz seinen Kopf streichelte.
„Feiner Hund.“
Tür und Schloss waren unversehrt.
Friedrich nahm einen Stuhl von der Wand und klemmte ihn vorsichtig unter den Türgriff.
„Komm, Sheriff, Fuß!“
Den Hund am Halsband gefasst, wandte er sich leise wieder der Haustür zu, von dort nach links Richtung Garten. Als er um die Hausecke bog, sah er es: Der schwache, flackernde Lichtschein einer Taschenlampe huschte durch die offene Glastür über Rasen und Terrasse.
Das Arbeitszimmer!
Wieder knurrte der Hund, und diesmal ließ Friedrich ihn los.
Sheriff preschte laut bellend Richtung Terrasse vor, dann jaulte er plötzlich qualvoll auf. Gleichzeitig fiel ein Schuss.
„Um Gottes Willen – Sheriff.“
Als Friedrich endlich die offene Terrassentür erreicht hatte, sah er aus den Augenwinkeln eine Gestalt in einiger Entfernung im Garten an ihm vorbeihuschen, doch er achtete nicht darauf. Er registrierte kurz, dass sein Hund vor dem Schreibtisch auf dem Bauch lag – was ihm kurz ein beruhigendes Gefühl gab – und sich unter leisem Winseln abwechselnd beide Vorderpfoten leckte.
Mit zitternden Fingern holte Friedrich sein Handy aus der Tasche und wählte. Unter der Nummer der Tierarztpraxis vermeldete eine Computerstimme, dass er außerhalb der Praxiszeiten anrufe, die da seien …
Verdammt. Er atmete tief durch. Ruhig jetzt. Hysterie nutzte jetzt niemandem. Schließlich fand er die Privatnummer der Tierärztin. „Marianne, komm sofort. Sie haben auf Sheriff geschossen!“
Es folgte eine kurze Pause, dann die beruhigende, tiefe Stimme der Veterinärin: „Bin sofort da.“
Eine halbe Stunde später packte Marianne Möller bereits ihre Sachen wieder zusammen. Sheriff war inzwischen geschmückt mit zwei blauen Stretch-Verbänden an den Vorderpfoten und lag in einer sicheren Ecke des Zimmers ohne Glasscherben.
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