„Da vorne bei dem Berg?“, fragte Gerda überrascht. Sie passierten gerade den weißen Giganten, der sich jeden Tag etwas weiter in die grüne Landschaft schob, bedrohlich und unaufhaltsam.
Langer nickte nachdenklich. „Damals waren die Absperrungen und Sicherheitsvorkehrungen lange nicht so streng wie jetzt. Heute würdest du gar nicht mehr an den Berg herankommen; damals war das kein Problem, wir waren oft da. Der Berg war noch viel, viel kleiner; er wächst ja jeden Tag. Und die Salzauswaschungen sind alles andere als unproblematisch für Boden und Grundwasser hier.“
Er ließ den Blick einen Augenblick an dem Kaliberg hängen, der allmählich kleiner wurde und schließlich verschwand. „Na ja, jedenfalls, es hieß, der Junge – Wolfgang – sei abgestürzt. Er galt als orientierungslos und nicht in der Lage, auf sich aufzupassen. Man beließ es dabei und schloss die Akte ziemlich schnell. Vielleicht zu schnell. Womöglich untersuchte man den Fall nachlässiger, als es hätte sein sollen“, setzte er leise dazu.
„Und sein Bruder Felix verschwand?“
„Genau. Am Tag nach der Bekanntgabe des offiziellen Untersuchungsergebnisses war er aus dem Dorf verschwunden. Und blieb unauffindbar. Der Vater starb ein paar Jahre später, und noch nicht einmal zu dessen Beerdigung hat man ihn gesehen. Ein Makler hat das Haus verkauft, die Mutter war ja schon ein paar Jahre vorher gestorben, und es war, als hätte es die Familie Schulze in Heubach nie gegeben.“
Gerda warf ihm wieder einen Blick zu. Manchmal konnte der alte Brummbär fast poetisch werden. „Aber es gab keine Hinweise darauf, dass es etwas Anderes als ein Unfall war?“, fragte sie. „Bei Wolfgang, meine ich.“
Langer zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war damals in den letzten Semestern auf der Polizeihochschule. Erst später habe ich von der Sache gehört. Ja, und eben heute, als Susanne mir sagte, dass Felix immer noch verschwunden ist.“
Sie näherten sich bereits dem Hotel, als Gerda meinte: „Also gut, ich gehe mit zu diesem Dorffest. Und die Musik höre ich mir exakt fünf Minuten an; wenn sie mich dann noch nicht überzeugt hat, fahre ich zurück.“
Langer strahlte, was selten genug vorkam. „Sagen wir fünfzehn, okay?“
Über einen schier endlosen, meisterlich geschnittenen und unverschämt grünen Rasen schlenderte Detective Sergeant James Scott gemessenen Schrittes Lestercombe Manor entgegen, einem Herrenhaus im Tudorstil, vor dessen Eingangshalle der Detective Chief Inspector gerade mit dem Butler sprach.
In respektvollem Abstand blieb er stehen und räusperte sich leise.
„Sir, wir haben ein Problem.“
DCI Thomas Warren warf ihm einen kurzen Blick zu, nickte, verabschiedete sich formvollendet mit einem „Danke, Parsons“ von dem gebieterischen Hausangestellten und folgte gemächlich seinem DS den Weg über das gepflegte Grün zurück zu den Stallungen, wo im Mittelgang zwischen einer langen Reihe von Pferdeboxen auf der einen und etlichen Strohballen auf der anderen Seite ein übel zugerichteter menschlicher Körper in einer riesigen Blutlache lag.
Einen kurzen Moment blieben die beiden Detectives stehen und begutachteten das Problem. Man hörte leises Pferdeschnauben und sah dann einen ratlos dreinblickenden jungen Mann, dessen Kleidung und Redeweise ihn als Stallburschen auswiesen.
„So hab‘ ich ihn gefunden, Sir. Alles voller Blut. Weiß gar nich‘, was ich sagen soll, bin noch ganz durcheinander ...“
Ein Telefon dudelte.
Richard Immelshausen alias Boris Kemper brauchte eine Zehntelsekunde, um sich von der Welt des britischen Landhausmordes zu verabschieden, und eine weitere, um zu begreifen, dass nicht sein Handy, sondern der Festnetzanschluss geklingelt hatte. Er schaltete seufzend den Ton am Fernsehgerät aus, erhob sich und fischte auf seinem Schreibtisch nach dem Mobilteil.
„Ja?“, meldete er sich mürrisch.
„Hier ist Eva. Stör ich dich beim Arbeiten?“
Seine Agentin. „Was willst du?“
„Lieber Himmel, was haben wir wieder eine Laune heute!“
„Komm bitte zur Sache; es ist nach zehn!“
„Wusste gar nicht, dass das für dich eine Rolle spielt.“ Kleine beleidigte Pause. „Und was ich will, kannst du dir ja denken. Wie weit ist das Manuskript? Es fehlt das letzte Kapitel. Als ob du das nicht wüsstest. Und abgesehen davon, dass Schering allmählich unruhig wird ...“
„Und abgesehen davon, dass das nichts Neues ist ...“, äffte er ihren nörgelnden Ton nach.
„... sehr unruhig“, kam es unbeirrt aus dem Hörer. „Abgesehen davon würde es mich selber mal interessieren, wer nun dein Mörder ist. Ich bin ja normalerweise ganz pfiffig darin, wie du weißt, aber dieses Mal kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie du die losen Fäden jetzt noch auf den letzten Seiten ...“
„Was hat er gesagt?“
„Wer?“
„Der Nikolaus. – Schering natürlich – von wem reden wir denn gerade?“
„Weißt du, ...“ Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung, den Richard nutzte, sich mit den – immer noch lautlosen – Vorgängen im idyllischen Highsummer Meadows zu beschäftigen.
Dem Detective Sergeant hatte sich inzwischen ein weiteres Problem in Form einer völlig verkohlten Leiche aufgetan, gefunden in einem Morgan Roadster, der inmitten der lieblichen Hügel von Kent ebenfalls fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war.
Muss die Pflegemutter des Stallburschen sein, dachte Richard Immelshausen mit einem prüfenden Blick auf den Bildschirm. Der ist nämlich in Wahrheit der uneheliche Sohn der Schwester des feinen Pinkels aus dem Herrenhaus. Jahrelang hat der Onkel bezahlt, damit die Pflegeeltern den Mund halten. Doch die wollen immer mehr, erpressen ihn, und er bringt sie um, alle beide. Oder aber, dachte Richard weiter, der Stallbursche hat seine Pflegeeltern aus dem Weg geräumt, weil er natürlich lieber im netten Herrenhaus statt in dem engen Cottage …
„Hast du was gesagt?“, tönte es aus dem Hörer.
„Nein, rede nur weiter.“
„Richard! Ich habe dich etwas gefragt! Du bist dran mit Reden!“
„Ha!“ Richard schnippte mit dem Finger, den Blick immer noch auf dem Fernseher. „Der Arzt war‘s! Natürlich! So passt alles zusammen.“
Im Hörer blieb es still, und Richard spann seinen Faden in Gedanken weiter, bis er Evas Stimme wieder hörte. Sie war leiser geworden, nachdenklicher, fast ängstlich.
„Richard, du willst nicht ernsthaft den Arzt zum Mörder machen, oder? Der kommt ganz am Anfang einmal kurz vor, spricht drei Sätze und verschwindet. Den kannst du im letzten Kapitel nicht wieder wie ein Kaninchen aus dem Hut ziehen!“
Widerwillig riss Richard sich vom Bildschirm los. „Was meinst du? Welcher Arzt …? Ach so, nein, ich dachte eben an etwas anderes. Also, was will Schering nun?“ Sicherheitshalber drehte er dem großen Bildschirm den Rücken zu. „Er bekommt das letzte Kapitel Ende der Woche. Bestimmt.“
„Du könntest ihn mal anrufen. Er ist dein Lektor, du bist der Star – rede doch einfach mal wieder mit ihm. Da freut er sich.“
„Ja, mach ich morgen.“
Sprach‘s – und hatte es schon wieder vergessen, als er das Gespräch wegdrückte und sich wieder dem Fernseher zuwandte. Das Angenehme an den Highsummer Meadows Murders war, dass man von den neunzig Minuten, zu denen die BBC-Produzenten sie aufgebläht hatten, gut und gerne fünf verpassen konnte, ohne den Faden zu verlieren.
Nachdem Richard befriedigt festgestellt hatte, dass tatsächlich der Dorfarzt all die schauerlichen Morde begangen hatte, und die Abspannmusik erklang, schaltete er das Gerät aus und wandte sich seinen eigenen fiktiven Verbrechen zu. Das Laptop stand einladend aufgeklappt auf dem Schreibtisch; Stöße von Ausdrucken lagen daneben auf dem Boden.
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