„Schön ist anders“, murmelte Gerda in sich hinein. „Aber immerhin wohl so was wie eine Attraktion für die Gegend hier, oder?“
Langer antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf die Straße.
Endlich passierten sie das Ortsschild Heubach und Langer sah sich aufmerksam um, was seiner Fahrsicherheit nicht eben zugute kam. Schließlich fuhr er auf der Hauptstraße in der Nähe einer kleinen Kirche an den Rand. Die Straße lag still und leer im nachmittäglichen Sonnenlicht. Über ihnen im Haus, vor dem sie parkten, wurde, von ihnen unbemerkt, eine Gardine zurückgezogen.
„Das ist es. Das Haus meiner Großeltern.“
Er zeigte auf ein vorbildlich restauriertes Fachwerkhaus auf der anderen Straßenseite. Rechts davon fiel der Blick durch ein offenes Tor auf einen großen, gepflegten Hof mit Pflastersteinen. Große Terracottatöpfe mit Oleander waren bereits aus dem Winterquartier gebracht worden und bildeten grüne Inseln; ein großes Scheunentor im Hintergrund war zugleich Abschluss und Beginn für etwas Neues.
„Oder besser, war es“, meinte er sinnend.
Gerda sah sich um. „Schön. Und jetzt? Willst du noch ein bisschen durchs Dorf fahren?“
Langer reagierte nicht. „Es hat sich viel verändert.“
„Wie lange warst du nicht mehr hier? Fast vierzig Jahre? Was erwartest du?“
„Ja, aber ich kannte hier alles wie meine Westentasche. In jeden Oster- und Sommerferien war ich hier, sogar noch in den ersten Semestern der Polizeihochschule ab und zu.“ Er brach ab und blickte weiter über die Straße hinüber in den Hof. „Wer da wohl jetzt wohnt?“
„Du wirst die Leute ohnehin nicht kennen.“ Eine leichte Ungeduld schwang in Gerdas Stimme mit. „Du hast es jetzt gesehen, was machen wir jetzt?“
Plötzlich kam eine Katze aus der Haustür in den Hof hinausgeschossen, fast gleichzeitig fegte eine Frau über die beiden Stufen, setzte der Katze nach und schimpfte lachend: „Jetzt isser schon wieder entwischt!“
Die Katze war auf einen riesigen Hibiskusbusch geflüchtet, dessen Zweige, säuberlich gestutzt, noch auf das erste Grün warteten. Dort blieb sie sitzen und sah gelassen auf ihr Frauchen herab.
„Du dummer Peter“, lockte die Frau, „nun komm schon runter!“ Sie streckte sich und holte den Kater vorsichtig aus den Ästen. Er schien nichts dagegen zu haben.
„Nun mach schon,“ sagte Gerda, „Lass uns fahren.“
Langer reagierte nicht, sondern starrte geistesabwesend auf die Szene im Hof.
„Du kannst nicht so lange hier stehen bleiben, wie sieht das denn aus! In so einem Dorf fällt man doch sofort auf!“
Die Frau war tatsächlich stehen geblieben und sah nun, den Kater auf dem Arm, über die Straße auf den parkenden Pkw. Langsam überquerte sie den Hof und trat auf die Straße hinaus. Es war eine attraktive Mittfünfzigerin mit ungebändigten, schwarzen Locken – bereits mit etlichen grauen Strähnen durchzogen, doch noch so dick, dass sie nur mühsam durch das Haargummi im Nacken gehalten wurden. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht.
„Jetzt hast du‘s. Sie hat uns entdeckt – was soll die Frau nur von uns denken?“ Gerda wurde zunehmend unruhig. „Nun fahr schon los.“
„Die schwarze Susanne!“, flüsterte Langer und sah gebannt auf die Frau, die nun langsam die Straße überquerte. Ohne auf den verständnislosen Blick Gerdas zu achten, öffnete er die Fahrertür und stieg aus.
Die Frau starrte ihn an.
„Paul?“, fragte sie leise, dann lauter. „Paul? Mein Gott, das gibt’s doch nicht! Der Paul Langer!“
Den Kater mit der Linken mühsam an sich klammernd, hielt sie ihm die rechte Hand hin und lachte. „Ich fass‘ es nicht. Der Paul Langer is mal wieder in Heubach!“
Sie sprach den leichten Singsang des Osthessischen, der schon an Thüringen erinnerte und mit der Frankfurter Diktion nichts mehr gemein hatte.
Langer war hochrot im Gesicht geworden, ergriff die Hand der Frau und stammelte hilflos: „Hallo Susanne.“ Er wies auf Gerda, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. „Äh … das ist meine Frau Gerda. Susanne Dengelmann, eine alte Freundin aus Heubach.“
„Nee, nicht mehr Dengelmann, ich hab‘ doch den Jürgen geheirat‘.“ Sie drehte sich zu Gerda um. „Susanne Meister.“
Diese nahm die dargebotene Hand und betrachtete die Frau neugierig. Ein paar Sekunden stand die kleine Gruppe nebst Kater beieinander und versuchte, mit der unerwarteten Situation fertig zu werden. Zwei Krähen schossen durch die Luft und ließen sich krächzend auf der Kastanie neben der Kirche nieder. Ein lang gezogenes Quietschen zeigte das Bremsen eines Zuges ganz in der Nähe an.
Plötzlich bog ein Motorrad um die Kurve, preschte die Hauptstraße hinab und machte ihnen lautstark ihre ungünstige Position nahezu mitten auf dem Asphalt bewusst. Der Kater, zu Tode erschrocken von dem Höllenlärm der rasenden Suzuki, riss sich aus Frauchens Arm los, rannte über die Straße in den Hof und war mit einem Satz wieder auf dem Hibiskus.
Susanne schüttelte lachend den Kopf und strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Der wird es einfach nicht müd´, das Spielchen. Und immer wieder auf den selben Busch.“ Sie sah Langer an. „Kommt doch rein, ich mach‘ uns einen schönen Kaffee, dann können wir ein bisschen von alten Zeiten reden!“
Bevor noch Gerda entsetzt abwehren konnte, hatte Paul Langer, der die ganze Zeit seinen Blick nicht von Susanne gelöst hatte, genickt.
„Eine prima Idee. Wir stören doch hoffentlich nicht?“ Dass seine Frage rein rhetorisch gemeint war, bewies die Tatsache, dass er bereits an der Fernbedienung des Autoschlüssels herumfingerte und kurz darauf ein leises Piepen ertönte, gefolgt vom Plopp der niedergehenden Schließknöpfe an den Fenstern.
Einigermaßen fassungslos beobachtete Gerda ihren Mann, der schon Anstalten machte, die Straße zu überqueren. Notgedrungen folgte sie den beiden. Der Kater ließ sich ebenso widerstandslos vom Hibiskus pflücken wie beim ersten Mal.
Sie betraten einen niedrigen Flur und kamen in eine große, gemütliche Wohnküche. Im Vorbeigehen drückte die Hausfrau auf den Knopf eines Kaffeeautomaten und holte drei Becher.
„Hab‘ sogar noch ein bisschen Kuchen von gestern“, meinte sie, während die Kaffeemaschine lautstark ihre Arbeit aufnahm. „Bin gleich wieder da.“
„Machen Sie sich doch keine Umstände!“, rief Gerda ihr nach und drehte sich, kaum war Susanne aus dem Zimmer, fauchend zu ihrem Mann um: „Was um alles in der Welt soll das denn jetzt?“
Langer schien endlich aus seinem tranceähnlichen Zustand zu erwachen und lächelte seine Frau glücklich an. „Da staunst du, was? Jetzt sitzen wir hier doch tatsächlich in der alten Küche von Opa zusammen!“
Gerda starrte zurück. „Und wer ist – sie ?“ Sie deutete auf die Tür, durch die Susanne Meister verschwunden war.
„Ach, Susanne“, Langer seufzte. „Susanne wohnte damals mit ihren Eltern ein paar Häuser weiter und wir – na ja ...“
Wieder wurde er rot wie ein Siebtklässler vor dem ersten Date. Seine Frau beobachtete ihn zunehmend beunruhigt. Das war nicht ihr Paul, den sie seit fünfunddreißig Jahren bemutterte.
„Also, ihr hattet mal was miteinander?“
Langer zuckte hilflos die Schultern, nickte, wiegte den Kopf, hob unschlüssig die Hände.
„Ja, was denn nun?“
„Na ja. Nein. Ja. Fast ...“ Ein tiefer Seufzer.
Plötzlich grinste Gerda ins sich hinein und stieß Paul mit dem Ellbogen sanft in die Rippen. „Du musst dich nicht aufführen wie ein Klosterschüler; das ist doch ewig her.“
Kleine Pause. Scharfer Blick.
„Ist es doch, oder?“
„Was? Ja, natürlich!“ Paul wandte ihr endlich den Kopf zu und sah sie entgeistert an. „Was dachtest du denn?“
„Na ja, du stellst dich an ...“
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