Bereits am ersten Abend war Langer ein Paar am Nebentisch aufgefallen, das aus dem Rahmen der restlichen Gäste – Rentner und Familien mit Kindern – herausfiel; letztere hatte man vorsorglich in den Apartments und Familienzimmern in einem etwas abgelegenen Trakt untergebracht. Die beiden jedoch waren weder das eine noch das andere.
Die Frau mochte Anfang oder Mitte Fünfzig sein, er vielleicht ein paar Jahre älter, beide blond, sportlich und trotz der frühen Jahreszeit auf natürliche Weise sonnengebräunt – eine Bräune, wie kein Sonnenstudio sie hätte hervorzaubern können. Man hätte sie sich besser in Cannes oder in einem Skihotel in Davos vorstellen können; diesem ruhigen Landhotel im letzten Zipfel Hessens gaben sie etwas fast Mondänes.
Auch Gerda hatte schon zwei oder drei Mal einen Blick auf den Mann nebenan riskiert, war er doch in jeder Beziehung genau das Gegenteil von dem, was ihr Göttergatte repräsentierte: schlank, beste Umgangsformen, die Kleidung von legerer Eleganz – unvorstellbar, dass die schicke Frau, die neben ihm saß, ein Auge darauf haben musste, dass er morgens mit sauberem Jackett aus dem Haus ging.
Am zweiten Tag liefen sich die beiden Paare in der Fußgängerzone der historischen Altstadt von Rotenburg über den Weg, wo Gerda den Startpunkt ihrer Sightseeingtour durch die Region angesetzt hatte.
„Ach, hallo“, der Fremde kam freundlich lächelnd näher, „Sie wohnen doch auch bei uns im Hotel, nicht wahr?“
Langer brummte still etwas in sich hinein und spürte gleichzeitig einen sanften Rippenstoß von Gerdas Seite; ganz im Gegensatz zu ihrem Mann lernte sie gerne neue Leute kennen. Ein Ausweichen war ohnehin unmöglich.
„Guten Tag“, sagte Gerda.
„Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Andreas Liebig, meine Frau Hella.“
Langer musste wohl oder übel in Aktion treten. „Angenehm. Paul Langer, meine Frau Gerda“, echote er im gleichen Tonfall.
Es entstand eine kleine Verlegenheitspause, bevor Liebig sagte: „Wirklich schön hier, oder? Wir haben mal gedacht, wir bleiben im Lande und machen einen völlig ruhigen Urlaub. Nur erholen, entspannen, Natur, keine Hektik und keine Pläne. Leben von einem Tag auf den anderen sozusagen.“ Sein Lachen war ansteckend.
Ein paar Minuten später fand man sich zu viert in einem Café nahe der Fulda wieder. Das schnell lebhaft werdende Gespräch, in dem zunächst einmal festgestellt wurde, dass alle – welch unfassbarer Zufall! – aus Frankfurt kamen, wurde hauptsächlich von den Liebigs und Gerda bestritten. Langer, der im entscheidenden Moment den Absprung verpasst hatte, saß meist still in seiner Ecke.
„... ein Autohaus, ziemlich groß sogar. Wir machen das zusammen. Ohne meine Frau geht gar nichts“, hörte er Liebig gerade sagen. „Vielleicht kennen Sie es, draußen in der Hanauer ...“
Der Mann war ihm nicht unsympathisch, er hatte eine Art, sogar solche Sachen zu sagen, ohne dass es nach Angeberei geklungen hätte; die Frau, Hella, hatte einen natürlichen Charme, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Trotzdem wäre Langer jetzt gerne alleine an der Fulda entlang gegangen, vielleicht Schwäne gefüttert – gab es da überhaupt Schwäne? – und …
„Beamter“, kam es in diesem Moment von Gerdas Seite.
Langer setzte sich ruckartig auf. Gerda hatte strikte Anweisung, bei solchen Gelegenheiten dies und nicht mehr über seinen Beruf verlauten zu lassen. Sie hielt sich – wie immer – daran und fuhr geschickt fort, bevor noch weitere Fragen gestellt werden konnten: „Und ich arbeite nebenberuflich in einer Boutique. Man kann ja nicht immer nur Haushalt und Garten ...“
„Ach, Sie haben einen Garten! Wie schön! Mein Traum!“ warf Hella Liebig ein, während sie ihren Mann mit einem ungnädigen Blick streifte. „Aber er hier“, sie knuffte ihn in die Seite, „ist so ein schrecklich urbaner Typ! Auf unserer Terrasse kann ich gerade mal eine paar Töpfe aufstellen.“
„Dabei hat er doch gerade noch von der Natur hier und der Ruhe geschwärmt“, wunderte sich Gerda.
Anerkennend lächelte Langer in sich hinein. Schlaues Mädchen, hättest zur Kripo gehen können. Widersprüche in der Aussage aufspüren und den Finger drauf legen.
„Ja eben!“ konterte Andreas Liebig lachend. „Manchmal braucht man das ja. Aber jeden Samstag Rasen mähen, das wäre nichts für mich.“
„Hättest ja nicht gleich mit ins Café gehen müssen!“, murrte Langer, als sie sich verabschiedet hatten und ihren Weg fortsetzten. „Wir sehen die doch sowieso jeden Tag im Hotel.“
„Wieso denn nicht? Die sind doch nett, oder?“
„Mag sein. Aber jetzt haben wir sie für den Rest des Urlaubs am Bein. Die hängen an uns wie Kletten, wirst an mich denken.“
„Du bist und bleibst ein alter Brummbär“, erwiderte Gerda gutgelaunt und hakte sich bei Paul ein. „Außerdem wollen wir morgen erst mal in dieses Heubach, da hast du schon mal vor ihnen Ruhe.“
Hans Schmitt, Ende Vierzig, schütteres Haar, große, unvorteilhafte Brille, war unscheinbar und unauffällig wie sein Name. Beides, Name und Erscheinung, bildete sein größtes Betriebskapital. Denn keiner würde in ihm einen der erfolgreichsten Privatdetektive Osthessens vermuten.
Jetzt stand er in der Altstadt von Rotenburg, zog sein Handy aus der Tasche und wählte die ihm inzwischen bekannte Nummer.
„Zunächst mal ein kurzer Zwischenbericht, weil Sie doch schon wieder so ungeduldig auf der Mailbox klangen, und dann …“ Er holte Luft, kam aber nicht weit. „Wie?“
Die Person am anderen Ende der Leitung schien ärgerlich zu sein, doch Hans Schmitt hatte ein dickes Fell. Auch das gehörte zu seinem Beruf. Er hörte geduldig zu.
„Immer langsam, Chef, nur die Ruhe! – Ja, ich weiß, es ist Ihr Geld. Jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden! Ich denke, ich habe heute was für Sie.“
Er schüttelte den Kopf. Wollen was wissen von einem, die Leute, und lassen einen nicht reden.
„Also. Ich hatte sie gestern den ganzen Tag auf dem Schirm. Sie waren in Fulda. Dom, Schloss, Schlossgarten, das ganze Programm, haben sogar das Polizeipräsidium nicht ausgelassen. Danach essen. Shoppen. Himmel, was die Frau so alles zusammenkauft! Die Einzelheiten bekommen Sie schriftlich, bis hin zum letzten T-Shirt, wenn Sie wollen. Dann saßen sie im Eiscafé, da war ich ganz nah dran.“ Er machte eine Kunstpause. – „Wie? – Ja, ich sagte doch, ich war nah dran. Es gab aber nichts, was irgendwie wichtig sein könnte – wie gesagt, Sie können sich ja selbst ein Bild machen, wenn Sie‘s schriftlich haben – außer …“ – Wieder eine kleine Pause. „Warten Sie, ich habe es mir aufgeschrieben.“
Schmitt wühlte in der Tasche seines leicht schmuddeligen Jacketts, „Hören Sie zu, Chef! Er fragt: ‚Hast du eigentlich den grünen Karton endlich entsorgt?‘ – Darauf sie: ‚Ich habe ihn Vater gegeben.‘ – Er: ‚Warum das denn, um Himmels Willen?‘ – Und sie: ‚Er wollte eben die Sachen von dem Jungen haben, warum denn nicht?‘ – Können Sie was damit anfangen, Chef?“
Hans Schmitt erfuhr nicht, ob der ‚Chef‘ damit etwas anfangen konnte oder nicht. Denn am anderen Ende der Leitung wurde wortlos aufgelegt. Er sah noch einmal kurz zum Café hinüber, wo die Ehepaare Langer und Liebig zusammen saßen und sich angeregt unterhielten, und beschloss, für heute genug getan zu haben.
Die unbelebte Landstraße zog sich durch Wälder und Wiesen, Langer saß am Steuer, Gerda einigermaßen entspannt daneben, das Radio dudelte leise.
„Was ist denn das?“ Gerda zeigte nach vorne auf einen schneeweißen, etwa zweihundert Meter hohen Tafelberg, dessen gesamte Höhe ein riesiges Plateau, etliche hundert Meter lang, bildete.
„Ein Salzberg. Eine Abraumhalde aus der Kalisalzproduktion. Die Leute sagen ‚Monte Kali‘ dazu.“ Er warf einen schnellen Blick zur Seite. „Himmel, ist der groß geworden!“
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