„Es tut ihm leid, aber Mr. Carrington schafft es nicht rechtzeitig und schickt Ihnen daher seinen Freund Charlie Stanton, der Sie nach New York bringt.“
Dr. Briskow hatte Cathys enttäuschtes Gesicht schon geahnt, als er die Nachricht erhielt. Daher war er nicht überrascht, als er es jetzt auch sah. Hoffentlich war dies nur eine Ausnahme und kein Dauerzustand, dachte Dr. Briskow. Für ihre Therapie war es wichtig, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
„Wenn Sie möchten, können Sie gerne noch länger hier bleiben bis Mr. Carrington selbst Zeit hat, Sie abzuholen. Ich meine, falls Sie dem Freund nicht trauen“, bot er ihr an.
„Das ist nett von Ihnen und ich weiß Ihre Fürsorge sehr zu schätzen, aber das wird nicht nötig sein. Ich weiß ja, dass Mike das alles nur wegen mir betreibt. Dabei muss er das alles doch nicht! Ich bin schon froh, dass er mich überhaupt aufnimmt. Ich will nicht, dass er extra wegen mir alles verändert. Aber davon war er einfach nicht abzubekommen!“
Cathy versuchte sich zu erinnern, wo sie den Namen Charlie Stanton schon einmal gehört hatte. Der Name war ihr nicht unbekannt, dennoch konnte sie ihn einfach nicht einem Gesicht zuordnen. Es war kein Weltuntergang, insbesondere, da er es ihr schon angekündigt hatte und trotzdem war sie enttäuscht von Mike. Er meinte es sicherlich nicht böse und doch empfand sie es so. Sie hatte sich so auf die gemeinsame Fahrt nach New York gefreut. Sie hatte ihm so vieles zu erzählen und wollte so vieles von ihm erfahren, was er die letzten Jahre gemacht und getan hatte. Doch mit einem Mal war genau das nicht mehr möglich. Denn er kam einfach nicht! Die Gefühle übermannten sie und selbst wenn ein kleiner Teil in ihr sagte, dass es ungerecht war, so von Mike zu denken, so war der viel größere Teil in ihr sauer und wütend, und vor allem enttäuscht von ihm.
„Alles in Ordnung?,“ unterbrach Dr. Briskow ihre Gedanken.
Sie hatte ganz vergessen, dass er immer noch vor ihr saß und sie besorgt ansah.
„Ja, schon in Ordnung. Ich bin nur enttäuscht“, gestand sie ihm. „Ich hatte gehofft, dass er mich wenigstens abholen würde.“
„Wenn Sie wollen, kann ich gerne mit Mr. Carrington sprechen.“
„Nein, das will ich nicht! Vielleicht lasse ich mich gerade auch nur von falschen Gefühlen verleiten. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Kann es am Entzug liegen, dass ich emotional so verwirrt bin?“
„Es kann sein, aber ich vermute eher, dass es bei Ihnen tiefergehende Ursachen hat. Die anschließende Therapie wird Ihnen gut tun und sie werden mehr über sich selbst erfahren und auch lernen, wie sie in bestimmten Situationen handeln sollten. Dadurch fällt es Ihnen leichter NEIN zu den Drogen zu sagen. Aber ein eiserner Willen ist immer noch das Wichtigste dabei. Ich möchte, dass Sie das nie vergessen! Mein Ziel ist es, dass ich meine Patienten unter anderen Umständen, wie jetzt wieder treffe.“
„Ich verspreche Ihnen, dass das nicht mehr vorkommen wird“, schwor sie mit feierlicher Miene. „Ich will mein Leben wieder in den Griff bekommen und werde meine Chance nutzen.“
Es war nicht nur Optimismus, der aus ihr sprach. Es war eine Überzeugung, die ihn glauben und hoffen ließ. Eine Durchsage unterbrach Ihr Gespräch und bat Dr. Briskow zum Empfang. Vermutlich nur eine Lappalie, aber er hatte seinen Mitarbeitern immer wieder gesagt, dass sie ihn lieber einmal mehr holen sollten, bevor ein Fehler passierte, der im Umgang mit ihrer Art der Patienten erhebliche Folgen haben konnte und dann schwer auszumerzen war. Daher hatte er auch strenge Regeln aufgestellt, die nicht nur die Patienten einschränkten, sondern auch 100%ige Aufmerksamkeit des Personals erforderte. Selbst, wenn es ihn gerade in diesem Moment ärgerte, dass er gehen musste. Er verabschiedete sich von Catherine, die er wahrscheinlich nie wieder im Leben sehen würde und machte sich auf zum Empfang, um zu sehen, wo das Problem lag. Das Problem war schnell auf den Punkt gebracht: ein unangemeldeter Besucher stand am Eingang. Zu den strengen Regeln der Klinik gehörte auch, dass nicht jeder ein- und ausgehen konnte, wie er wollte. Niemand kam an der Schleuse des Empfangs vorbei, ohne dass er oder die diensthabende Oberschwester Bescheid wusste. Und dieser Mann war keineswegs bekannt. Verunsichert stand er, groß gewachsen wie er war, und mit unsicherem Lächeln, das seine Grübchen zeigte, vor der Empfangsschwester, die es gewohnt war grundsätzlich nichts zu glauben, was ihr erzählt wurde.
„Hören Sie, ich soll Catherine Coleman für meinen Freund Mike Carrington abholen und nach New York bringen“, versuchte er die Empfangsdame, die einem Schlosshund glich, zu überreden. „Ich will Ihnen hier sicherlich niemanden entführen oder sonstiges. Hat Mike Carrington denn nicht Bescheid gegeben, dass ich komme?“
„Doch hat er“, mischte sich nun Julian Briskow ein. „Ich habe nur nicht gedacht, dass Sie schon so schnell kommen und habe gerade eben erst Ms. Coleman darüber informiert, bevor ich dem Empfang Bescheid geben konnte. Sie müssen Charlie Stanton sein. Würden Sie sich bitte ausweisen und in die Besucherliste eintragen. Wir nehmen die Regeln sehr ernst. Ich werde Ms. Coleman derzeit über Ihre Ankunft informieren.“
An die Empfangsschwester gewandt sagte er noch „danke Maggie“ ehe er sich umdrehte und den Weg, den er gerade gekommen war, wieder zurückging.
Catherine war unterdessen dabei ihre Sachen zu packen. Viel gab es nicht, nur das Nötigste. Eine Zahnbürste, Zahncreme, eine Bürste und etwas Kleidung, die sie von Laura geliehen bekommen hatte. Ihre anderen Habseligkeiten waren noch bei Matthew und Jasmin, wo sie auch bleiben würden. Denn freiwillig ging sie dort nicht mehr hin! Sie würde sich neue Klamotten kaufen müssen, obwohl sie nicht wusste von welchem Geld und wie sie das jemals wieder zurückzahlen sollte. Sie verstaute alles in einer Plastiktüte und setzte sich ans Fenster ihres Zimmers, um auf Charlie Stanton zu warten. Sie überlegte immer noch, woher sie diesen Namen kannte, aber das Gesicht dazu, wollte einfach nicht in ihrem Gedächtnis erscheinen. Also gab sie auf und beobachtete die Bäume vor ihrem Fenster, die vom Wind sanft hin und her gewogen wurden. In ein paar Stunden würde sie es sowieso wissen. Warum sollte sie sich jetzt damit belasten? Es klopfte und sie rechnete fest mit Dr. Briskow. Es war ihr ein Rätsel, wie er alle seine Patienten mit dieser Ausdauer und Intensität bertreuen konnte. Er musste sein Privatleben völlig nach hinten anstellen, was sicherlich auch zur Vernachlässigung seiner Frau führte.
„Ms. Coleman, es ist soweit. Sie werden abgeholt. Haben Sie schon gepackt.“
„Packen ist etwas übertrieben. Es hat alles in eine Plastiktüte gepasst.“
Sie lachte und zeigte erstmals ihr schönes Lächeln. Eine starke Persönlichkeit steckte hinter ihrer Fassade, die langsam zum Vorschein kam und Stück für Stück selbstsicherer wurde. Sie ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
„Danke Dr. Briskow für alles, was Sie die letzten Tage für mich gemacht haben. Ich werde Ihnen das nie vergessen!“
„Das ist mein Beruf. Und Sie können mir keinen größeren Dank aussprechen, als dass Sie sich von den Drogen fernhalten.“
„Darauf können Sie sich verlassen. Danke!“, versicherte sie ihm und ging mit der Tüte in der Hand Richtung Empfang. Sie war gespannt, welches Gesicht zu dem Namen gehörte, der ihr so bekannt und doch wieder unbekannt erschien. Die Spannung war groß, auch wenn lange nicht so groß, als wenn Mike jetzt erschienen wäre. Ein großer, gut gebauter, dunkelblonder Typ stand an der Theke und zeigte Grübchen als er die Empfangsschwester anlächelte. Sein lässiger Look aus Jeans und Freizeithemd ließ ihn selbstsicher aussehen und doch nagte eine Nervosität, die Cathy sich nicht erklären konnte, an seinem Bild. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr an diesen Mann erinnern. Entweder hatte er sich zu sehr verändert oder ihr Gehirn spielte ihr einen Streich und sie kannte ihn wirklich nicht. Am Empfang angekommen begrüßte er sie herzlich und Catherine kam noch mehr ins Grübeln, wer dieser Mann vor ihr war.
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