Ich wusste es natürlich längst. Ich wusste fast alles über sie, doch das musste sie nicht erfahren. Ralph hatte eine dicke Akte über Claire angelegt. Über sie und über die von Erlenfels Sippe. Mein Bruder arbeitete für eine Spezialeinheit, die nur wenigen hohen Tieren der Regierung bekannt war. Sie arbeiteten im Untergrund, bekämpften Bestechung, Terrorismus und Menschenhandel im eigenen Land. Die von Erlenfels Familie stand ganz oben auf ihrer Liste, zusammen mit einigen namhaften Unternehmern, Ärzten, Politikern, Justizangehörigen und Kirchenvertretern.
„Weißt du, wo deine Mutter lebt?“ Ich tat ahnungslos, um Claire zu schützen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Leider nicht“, meinte sie traurig. „Meine Mutter will nichts mehr von mir wissen, also spielt es keine Rolle. Ich wünsche mir nur, dass es ihr gut geht.“
Claire sagte die Wahrheit, doch sie wusste nicht, dass ihr feiner Exmann der Mutter einen Besuch abgestattet hatte. Ralph hatte mit Claires Mutter ein Gespräch gehabt, in dem sie zugab, von Benedikt von Erlenfels bedroht worden zu sein. Sie solle ihre Tochter in Ruhe lassen, sonst könne er nicht mehr für deren Unversehrtheit garantieren, hatte er gesagt. Er hatte Claire systematisch von der Umwelt abgeschnitten, damit sie auf ihn angewiesen war.
„Vielleicht kannst du ihr eines Tages alles erzählen, dann wird sie dich verstehen.“
Ein schwacher Trost in ihrer Lage, aber ich wollte sie ermutigen, nicht aufzugeben.
„Erst einmal muss ich überleben“, entgegnete Claire mit einem schiefen Grinsen. Sie überraschte mich. Trotz ihrer traumatischen Erlebnisse und der daraus resultierenden Hilflosigkeit, die sie verspürte, sah sie die Dinge klar und deutlich. Sie zeigte keine Angst, wenn sie davon sprach, eventuell nicht zu überleben. Es schien, als würde sie jederzeit damit rechnen, was leider im Bereich des Möglichen lag.
Dass es so sein könnte, traf mich mit voller Wucht. Ich wollte, dass sie überlebte und ich würde sie beschützen, mit allen Mitteln!
Auf dem Rückweg schob sie ihre Hand in meine Armbeuge. Ein tief vergrabenes Glücksgefühl stieg in mir hoch; ich fühlte mich ein bisschen, wie ein Primaner beim ersten Date.
Es war ein Vertrauensbeweis, den ich mir in ihren Augen verdient hatte, und es fühlte sich verdammt gut an.
Claire
„Gute Nacht!“ Leise schloss ich die Tür zum Wohnzimmer und ging die breite Treppe hinauf zum Obergeschoss, in dem mein Zimmer lag.
Ich hatte mit Tom und Bella zu Abend gegessen, würziges Gulasch mit Knödeln und Salat; dabei hatte ich nach den Hausregeln gefragt. Ich wollte alles richtig machen, denn es gefiel mir in diesem Haus. Die beiden hatten mich verständnislos angesehen, dann hatte Bella meine Hand ergriffen und mir erklärt, dass es in diesem Haus keine Regeln gab. Jeder tat das, was er gerade tun wollte. Ich dürfe ihr etwas bei der Hausarbeit zur Hand gehen, wenn ich das wolle, sollte mich jedoch erst einmal ein paar Tage ausruhen.
Ich war verwirrt. Irgendeine Aufgabe musste ich doch haben, wenn ich schon hier wohnen durfte. Was sollte ich nur den ganzen Tag tun?
Ich nahm mir vor, am nächsten Tag, das Haus näher anzusehen. Vielleicht konnte ich Bella eine Freude machen, indem ich Fenster putzte oder den Rasen mähte. Wenn ich keine Aufgabe hätte, würde ich den ganzen Tag an die Dinge denken, die ich am Liebsten so schnell wie möglich vergessen würde. Ich musste mein Gehirn permanent ablenken, es beschäftigen. Sonst sah ich immerzu diese Männer vor mir, wie ihnen der Schweiß über ihre Gesichter rann, während sie ihre Spielzeuge auf und in meinen Körper trieben.
Ich hörte mich selbst wimmern, als die Bilder vor meinen Augen aufflackerten. Noch immer spürte ich den Schmerz, den mir die Peitschen, Rohrstöcke und Nadeln zugefügt hatten. Ich spürte die Gürtel mit ihren scharfen Spitzen, die sich schmerzhaft in mein Fleisch bohrten, bis sich feine, rote Rinnsale gebildet hatten; ich hörte das bösartige Lachen, als sie den Gürtel enger zogen und enger und enger.
„Du wolltest doch unbedingt ein Kleidungsstück tragen“, hatten sie gehöhnt und sich an meinem Schmerz, meiner Angst und meinem Ekel geweidet.
Stunden und Tage hing ich an meinen Handgelenken. An der Decke hatten sie mich aufgehängt, mit einer dicken Eisenkette, die sie um meine Handgelenke banden. Meine Zehenspitzen berührten gerade so den kalten Boden aus Beton. Drei Mal hatte ich mir die Schulter ausgerenkt, weil ich mich vor Schwäche nicht mehr halten konnte. Benedikts Hausarzt hatte mich dann versorgt. Er gehörte nicht zu seinen Kunden, war jedoch schon seit Jahrzehnten der Leibarzt der Familie. Wie oft ich ihn angefleht hatte, mir zu helfen, wusste ich nicht mehr. Er hatte immer verneint, hatte Angst um seine Familie und um seinen Ruf.
Oh bitte lieber Gott! Wenn es dich wirklich gibt, lass es mich vergessen!
Schluchzend sank ich auf mein Bett. Dort kauerte ich mich zusammen, schlang die Arme um meine angezogenen Beine und wiegte mich hin und her.
Ich fühlte mich einsam und war furchtbar traurig. Schon lange hatte mich niemand mehr gehalten, um mich zu trösten. Liebevolle Berührungen kannte ich schon lange nicht mehr; nur Berührungen, die grausam waren und schmerzten, mich demütigten.
Erschöpft ging ich in mein Badezimmer. Beim Anblick der großen, frei stehenden Badewanne beschloss ich, mir ein Bad zu gönnen. Bella hatte mir beim Abendessen sogar empfohlen, ein Bad zu nehmen. Also würde es wohl in Ordnung sein, wenn ich ihr Angebot annahm.
Wenig später lag ich im heißen Wasser und bedeckte mich mit zartem, wohlriechenden Schaum. Langsam entspannten sich meine Muskeln. Ich schloss die Augen und dachte an den Richter, an Tom.
Er war ein beeindruckender Mann, schon wegen seiner tiefen, sonoren Stimme.
Tom war groß und hatte breite Schultern. Für einen Mann, der den ganzen Tag im Büro oder im Verhandlungssaal saß, war er ungewöhnlich muskulös. Er schien viel Sport zu treiben und es zahlte sich aus. Seine Taille war schlank, seine Unterarme sehnig.
Es war ein schönes Gefühl, als er meine Hand in seiner gehalten hatte. Seine Hand war groß und warm; ich genoss die Berührung sehr, auch wenn er etwas zu fest zugedrückt hatte, als er in Gedanken versunken war.
Am faszinierendsten fand ich sein glänzendes schwarzes Haar, das eine dekadente Länge hatte, für einen Mann in Robe. Die dichten Strähnen fielen bis über seinen Kragen und am Oberkopf war sein Haar so lang, dass es ihm immer wieder in die Stirn fiel, sobald er den Kopf neigte. Seine Augen waren so dunkel, dass man glauben konnte, sie seien schwarz. Im Lieferwagen war er mir jedoch für einen Augenblick so nahe, dass ich kleine, fast silbrige Sprenkel darin sehen konnte.
Der Richter war kein aalglatter Schönling wie Benedikt. Er war kernig und maskulin, mit einem kantigen Kinn und einer geraden, langen Nase. Die hochstehenden Wangenknochen gaben ihm ein raubtierhaftes Aussehen, das in völligem Kontrast zu seinen vollen, sinnlich geschwungenen Lippen stand. Sicher hatte er eine wunderschöne Frau an seiner Seite. Ein so attraktiver und gebildeter Mann blieb nicht alleine.
Als das Wasser abkühlte, stieg ich aus der Wanne und trocknete mich mit einem dicken und herrlich weichen Badetuch ab. Ich cremte mich mit einer wundervoll duftenden Lotion ein und bürstete mein Haar, bis es in seidigen Wellen über meine Schultern fiel. In einen flauschigen Bademantel gehüllt, legte ich mich auf das große Himmelbett und starrte auf den weißen seidigen Stoff, der sich über mir spannte.
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