Sie trug haargenau die gleichen Kleider, die ich für heute ausgesucht hatte. Moment mal, Michelle hatte mich gestern Abend mit dem schicken Kostüm überrascht und darauf bestanden, dass ich es heute trug. Sie wusste also, dass mir jemand bei meiner Flucht helfen wollte; eine andere Möglichkeit gab es nicht. Warum hatte sie mir nichts davon gesagt? Gerade noch hatte sie völlig überrascht gewirkt!
Weil du gezittert hättest vor Aufregung und damit alles verraten hättest!, gab ich mir selbst die Antwort.
Zaghaft ergriff ich die Tasse und trank einen Schluck. Der Kaffee war stark und tat so gut, dass ich gleich noch einen Schluck und noch einen nahm, bis die Tasse, zu meinem großen Kummer, leer getrunken war.
Der Doppelgänger des Richters nahm meine Tasse, stellte sie auf die kleine Plattform einer Hightech Maschine und drückte einen Knopf. Kurz darauf erfüllte das Geräusch des Mahlwerks den Raum, dann floss frischer Kaffee in meine Tasse.
Ich liebte den Duft von frischem Kaffee. Immer wenn ich Benedikt Kaffee bringen sollte, schnupperte ich verstohlen an seiner Tasse. Eines Tages überraschte er mich dabei, wie ich genüsslich das verführerische Aroma mit der Hand zu meiner Nase wedelte. Er zwang mich, die große Tasse zu leeren – in einem Zug. Eine ganze Woche lang konnte ich, wegen der Verbrennungen, nur unter Schmerzen Nahrung zu mir nehmen.
Der Doppelgänger des Richters stellte mir mit einem Zwinkern die Tasse hin.
„Hier kleine Lady. Sie sehen aus, als könnten Sie noch eine Tasse vertragen.“ Er sah mich freundlich an, seine Augen blitzten fröhlich.
Ich wagte ein Lächeln, das mutiger wurde, als er es erwiderte. „Vielen Dank“, sagte ich leise. Die Anspannung fiel etwas von mir ab.
Ich straffte die Schultern und sah zum Richter, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, wie ich erschrocken feststellte. „Entschuldigung, es tut mir leid!“ Schnell senkte ich den Blick und zog die Schultern hoch. Mein Herz klopfte schnell gegen meine Rippen vor Angst.
„Claire, bitte sehen Sie mich an.“ Die Stimme des Richters klang weich und bittend, was mich völlig verwirrte, denn das war ich nicht gewohnt.
Zögernd hob ich den Blick. Er sah mich lächelnd an, doch in seinen Augen erkannte ich so etwas wie Traurigkeit. „Sie haben keinen Grund, sich für irgendetwas zu entschuldigen, Claire.“ Ich nickte, gefangen von seinen Augen, die plötzlich so traurig aussahen, dass es mir das Herz zuschnürte. Ich fragte mich, aus welchem Grund er wohl so traurig war.
„Ich bringe Sie von hier weg, Claire. Mein Bruder und diese junge Dame hier“, der Richter zeigte auf unsere Doppelgänger, „werden jetzt das Gebäude durch den Gerichtssaal verlassen. Wir warten hier, bis ich ein Zeichen bekomme, dann bringe ich Sie in Sicherheit.“
In Sicherheit ... Das hörte sich traumhaft schön an. Es klang nach Ruhe und Frieden, nach Zufriedenheit. Ich wollte ihm gerne glauben, schon deshalb, weil ich die Traurigkeit aus seinen Augen vertreiben wollte.
„Ziehen Sie das bitte an.“ Meine Doppelgängerin hielt mir Kleidungsstücke hin. Ich nahm sie an mich und begann sofort, mich umzuziehen. Als ich fertig war, zog mich meine Doppelgängerin, zufrieden grinsend, vor einen kleinen Wandspiegel. Ein weitgeschnittener, schwarzer Kaftan verhüllte meine Figur und eine Burka verbarg meinen gesamten Kopf. Als ich mich umdrehte, hatte der Richter einen strahlend weißen Kaftan übergezogen. Sein Bruder half ihm, einen langen Bart ans Kinn zu kleben und auf seinem Kopf thronte eine Art Turban.
Der Richter war fast nicht wieder zu erkennen. Sein Bruder schob ihm noch eine große, schwarze Hornbrille auf die Nase, was der Richter augenrollend geschehen ließ. Ich konnte ein Kichern nicht unterdrücken, unterbrach mich jedoch abrupt, als er mich ansah. Mit klopfendem Herzen lugte ich verängstigt durch die feinen Netze der Burka. Plötzlich grinste er und sah wieder aus wie ein Lausebengel. „Lachen Sie mich ruhig aus, Claire. Sie sehen deutlich eleganter aus!“
Unsere Doppelgänger machten sich bereit für ihren Auftritt. Als die junge Frau mir Lebewohl sagte, umarmte sie mich plötzlich. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Claire“, flüsterte sie an meinem Ohr.
„Ich danke Ihnen, für alles“, flüsterte ich ergriffen zurück. Ich hoffte, den beiden netten Menschen würde nichts geschehen. Sie wollten mir helfen, einfach so, ohne mich zu kennen.
Der Bruder des Richters, zwinkerte mir zum Abschied freundlich zu. „Kopf hoch, Claire. Sie sind in guten Händen“, sagte er, dann öffnete die Frau die Tür und sie verschwanden.
Eine Weile geschah nichts. Ich stand stumm an die Wand gelehnt und lauschte angestrengt in die Stille. Der Richter lauschte hin und wieder dem kleinen Knopf in seinem Ohr, dann nahm er plötzlich meine Hand in seine.
„Es geht los“, flüsterte er. Im gleichen Augenblick schnellte mein Puls nach oben. Panik wollte sich in mir breitmachen, doch ich hatte keine Zeit dazu. Der Richter öffnete eine weitere Tür, die in ein anderes Büro führte. Dort warteten mehrere Menschen auf uns. Alle trugen Burkas oder Turbane und weite Kaftans. Sie nahmen uns in die Mitte und kurz darauf, gingen wir gemeinsam durch die Flure des Gerichtsgebäudes. Der Richter hielt meine Hand fest in seiner, während eine mir unbekannte Frau, meine andere Hand ergriff. Ich hielt den Kopf gesenkt, um nicht auf die Füße meiner Vordermänner oder vielleicht auch Frauen zu treten, das war unter den Kaftan nicht wirklich zu erkennen.
Durch das feine Netz vor meinen Augen war meine Sicht ziemlich eingeschränkt.
So musste eine Fliege die Welt sehen, ging es mir durch den Kopf, worüber ich fast gelacht hätte. Es war typisch für mich, in einer so bedrohlichen Situation über Dinge nachzudenken, die die Bezeichnung ad absurdem verdiente.
Wir stiegen Treppenstufen hinab, liefen durch Flure, passierten mehrere Türen und stiegen wieder Treppenstufen hinunter, nur um wieder durch endlose Flure zu laufen. Ich schwitzte unter dem dichten Stoff, dazu kamen Angst und Verunsicherung. Irgendwann, nach unzähligen Gängen und Türen, wie es mir schien, spürte ich kühle Luft und wagte einen Blick nach oben. Ich konnte die breite Treppe erkennen, die zu dem imposanten Eingang des Gerichtsgebäudes führte. Hier und da standen Menschen und unterhielten sich; Reporter blickten suchend an uns vorbei. Mir war bewusst, dass sie wegen der Scheidung hier Stellung bezogen hatten. Benedikt hatte bis zuletzt die Gerüchte, wir würden getrennt leben, dementiert. Eine weitere Sache, die er mir vorhielt; ich hatte seinem Ruf geschadet, indem ich weggelaufen war und dann auch noch gewagt hatte, die Scheidung einzureichen.
Wir traten aus dem Gebäude und hielten uns links, als ich im Augenwinkel den Bruder des Richters und die junge Frau sah. Sie rannten in die entgegengesetzte Richtung, praktisch direkt in die Arme einer Horde Vermummter, die schwere Maschinengewehre auf sie richteten. Oh Gott, nein! Ich erstarrte vor Entsetzen. Benedikt würde sie töten, weil er dachte, sie seien der Richter und ich. „Komm weiter! Sie sind in Sicherheit!“ Der Richter riss an meiner Hand und ich stolperte, blind vor Tränen, vorwärts. Er konnte doch nicht so grausam sein und seinen eigenen Bruder opfern!
Plötzlich wurde ich an der Taille gepackt und hochgehoben, und fand mich gleich darauf in einem Transporter wieder. Die Tür wurde zugeschoben, es wurde dunkel. Der Wagen fuhr keine zwei Sekunden später an und ich fing an zu schreien. Das Herz drohte mir aus der Brust zu springen, denn die Dunkelheit war mein Feind. Jemand riss mir die Burka vom Kopf und knipste eine kleine Lampe an.
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