Mir war bewusst, dass sich Benedikt weder an die Bannmeile, noch an die ausgesprochene Scheidung halten würde. Er wollte mich zurückhaben und daran würde ihn nichts und niemand hindern. Niemand nahm ihm sein Eigentum weg, ohne dafür zu büßen.
„Frau von Erlenfels, begleiten Sie mich doch bitte noch kurz in mein Amtszimmer.“
Der Richter deutete auffordernd auf die Tür, durch die er, am Anfang der Verhandlung, den Gerichtssaal betreten hatte. Fragend blickte ich zu meiner Anwältin, die scheinbar ebenso überrascht, mit den Schultern zuckte. Sie packte meine Akte in ihren kleinen Koffer und fasste mich am Ellbogen.
„Nein, Frau Anwältin, bitte nur Ihre Mandantin“, kam es ruhig, aber bestimmt vom Richterpult. „Das kann ich nicht zulassen, Euer Ehren! Meine Mandantin hat Angst“, erklärte Michelle mit klarer Stimme. Dankbar sah ich sie an. Sie lächelte beruhigend und bedeutete mir, mit ihr zum Amtszimmer zu gehen. Vor der Tür erwartete uns der Richter, der das Podest verlassen hatte. Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Michelle. Du musst mir vertrauen und jetzt den Saal verlassen. Ich kann und will nicht riskieren, dass dir oder deiner Mandantin etwas geschieht.“ Überrascht über die vertrauliche Anrede blickte ich zwischen dem Richter und Michelle hin und her. Der Richter bemerkte meinen verblüfften Blick und schmunzelte kaum merklich. „Michelle und ich sind schließlich Kollegen. Wir duzen uns allerdings nur privat“, erklärte er flüsternd. „Was hast du vor?“ Michelle verfiel ohne Probleme in die vertraute Anrede. „Das darf ich dir nicht sagen, sonst bringe ich dich in Gefahr“, erwiderte der Richter. „Du kennst mich, Michelle. Bitte, vertraue mir“, flüsterte er eindringlich. Wir standen so dicht beieinander, dass selbst die noch wartenden beiden Saaldiener nichts verstehen konnten. Sie blickten jedoch interessiert zu uns herüber, was meinen Verdacht bestätigte. Die beiden Herren arbeiteten in Wirklichkeit für Benedikt. Er hatte überall seine schmierigen Finger drin. Nichts war ihm heilig außer seinem eigenen Wohlbefinden. In der riesigen Villa am Stadtrand von Frankfurt gingen Richter, Staatsanwälte, Polizisten, aber auch Kirchenvertreter und Politiker, ein und aus. Sie alle waren Freunde der Familie von Erlenfels, manche davon notgedrungen.
Ich hatte Michelle davon berichtet und sie versprach, sich um einen anderen Richter zu kümmern, um die Scheidung nicht zu gefährden. Als sie mich heute Morgen zur Verhandlung abholte, berichtete sie mir, der für die Scheidung eingeteilte Richter, hätte ein akutes Darmleiden, welches ihn ans Bett, besser gesagt, an die Toilette fesselte. Ich meinte, ein kleines, zufriedenes Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen, das so gar nicht zu ihrem mitleidigen Ton passen wollte. Stattdessen hatte der Richter, der nun vor mir stand, die Verhandlung geführt.
Michelle sah mich besorgt an. „Schaffen Sie es alleine, Claire? Tom, äh. Dr. Wagner, gehört zu den Guten, er wird Ihnen nichts tun.“
Ich wollte nein sagen, den Kopf schütteln, sie anflehen, „Nein! Ich schaffe es nicht! Bitte, lass mich nicht alleine!“, doch ich tat es nicht. Warum auch? Wenn sich dieser Richter als Benedikts Gehilfe herausstellte, nahm alles seinen Lauf. Benedikt würde mich töten lassen, so wie er es angedroht hatte. Ich konnte nur hoffen, dass er sich nicht noch eine seiner Gemeinheiten ausgedacht hatte. Vielleicht brachte er mich in den Club, oder ich musste dem Richter zu Willen sein. Wenn ich Glück hatte, stand er nicht auf die besonders schmerzhaften Spiele, wie einige seiner Kollegen.
Ich musste Michelle schützen, sie hatte schon zu viel für mich riskiert.
„Es ist in Ordnung, Michelle. Vielen Dank für alles.“ Ein letztes Mal umarmte ich die taffe Anwältin.
„Passen Sie auf sich auf, Claire. Ich werde Sie nie vergessen.“ Die Stimme der Anwältin klang erstickt. Bevor ich anfing zu weinen, löste ich mich von ihr. Schnell schlüpfte ich in das Amtszimmer des Richters, auf alles gefasst, nur nicht auf das, was ich sah.
Verängstigt wich ich zurück, den Mund geöffnet, um zu schreien, doch ich kam nicht weit. Eine Hand legte sich über meine Lippen, gleichzeitig schob sich ein starker Arm um meine Taille und hielt mich fest. Eingeschüchtert erstarrte ich augenblicklich zu einer Statue. Ich hatte gelernt, dass es nur schlimmer wurde, wenn ich mich wehrte.
Nur das Beben meines Körpers und den rasenden Puls, den ich als Rauschen in meinen Ohren wahrnahm, konnte ich nicht unterdrücken.
„Es ist alles in Ordnung, Claire. Das sind mein Bruder und eine Polizistin, die mit ihm zusammenarbeitet. Ich lasse Sie jetzt los, aber Sie dürfen nicht schreien, sonst war alles umsonst.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte des Richters mich erreichten. Ich reagierte zuerst auf seine beruhigende Stimme. Sie klang warm und wohlwollend, so dass sich mein Herzschlag beruhigte und das Rauschen in meinen Ohren leiser wurde. Der dezente Geruch von Seife strömte von seiner großen Hand in meine Nase. Er schien Nichtraucher zu sein, analysierte ich instinktiv.
„Kann ich meine Hand wegnehmen?“ Das Gesicht des Richters tauchte neben mir auf. Dunkle Augen schauten mich besorgt an. Ich nickte scheu und seufzte beklommen, als er tatsächlich seine Hand von meinem Mund nahm. Erneut wagte ich einen Blick zu den zwei Gestalten, die mir wie eine Fata Morgana vorkamen. Die Frau sah fast aus wie ich, der Mann hingegen ähnelte sehr dem Richter. Ich konnte mir die Bedeutung der Situation nicht erklären, was man mir wohl am Gesicht ablesen konnte. Die Frau, die mir ähnlichsah, lächelte plötzlich. „Ich kann verstehen, dass Sie durcheinander sind, mir erging es gerade genauso.“ Ihre Stimme passte nicht zu meiner Erscheinung; es war alles ziemlich verworren. „Claire, das sind für heute unsere Doppelgänger. Die beiden werden gleich mein Amtszimmer durch den Gerichtssaal verlassen und uns damit den Weg für unsere Flucht frei machen.“
Ungläubig wagte ich einen Blick in das Gesicht des Richters. Er lächelte freundlich, sogar ein wenig verschmitzt. Dabei erinnerte er mich eher an einen jugendlichen Lausebengel, als an einen ehrwürdigen Richter. Der Vergleich brachte mich zum Schmunzeln, was ihm ein breites Grinsen auf die Lippen lockte.
„Bitte, setzen Sie sich, Claire.“ Er schob mich sanft zu einem Stuhl, auf dem ich mich folgsam niederließ. Er sah mich aufmerksam an und schob mir eine Tasse hin, aus der mir der wundervolle Duft von Kaffee entgegenschlug. „Ich glaube, den können Sie jetzt brauchen. Etwas Stärkeres habe ich leider nicht hier“, sagte er mit Bedauern in der Stimme.
Argwöhnisch sah ich die Tasse an. Ich würde wirklich fast alles für eine Tasse Kaffee geben, doch was, wenn Schlafmittel oder sogar Drogen in den Kaffee gemischt wurden? Ich hatte das alles schon erlebt. Zweimal beging ich nicht den gleichen Fehler, es sei denn, er zwang mich, das Gebräu zu trinken.
„Es ist nur Kaffee in der Tasse. Schauen Sie her.“ Die Frau nahm die Tasse und trank einen Schluck. „Sehen Sie? Es ist alles in Ordnung.“ Sie setzte sich neben mich auf einen Stuhl und nahm meine eiskalte Hand in ihre. „Du lieber Himmel Mädchen, sind Sie durchgefroren!“ Entgeistert sah sie mich an und begann, meine Hand in beiden Händen zu wärmen. Es fühlte sich angenehm, fast tröstlich an, was sie tat. Ihre Bewegungen waren ruhig und sie strahlte eine fast mütterliche Stärke aus, obwohl sie höchstens in meinem Alter war. Erst jetzt erkannte ich an den dunkleren Augenbrauen, dass sie ihre Haare gefärbt haben musste, doch wir hatten die gleiche Größe und eine ziemlich ähnliche Figur.
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