„Nun“, begann Grewels etwas gehetzt wirkend.
„Ganz einfach: Wenn die Schuppe schwarz ist, dann waren wir zu langsam! Reicht das vorläufig als Erklärung?“, fragte er unwirsch nach. Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob er sich mit schwerfälligen Flügelschlägen in die Luft und rief den beiden Jungen zu.
„Folgt mir! Wir haben keine Zeit zu verlieren und noch ein gutes Stück Weg vor uns“. Die beiden Freunde ständig zur Eile antreibend, flog Grewels voraus.
Es war eine kühle Vollmondnacht und Simon war froh, einen dicken Pullover und seine Jacke zu tragen. Was würde sie nur erwarten? Konnte er dem Drachen trauen? Richie, der auf jedes Geräusch achtend leise fluchend neben ihm herlief, schien Grewels jedenfalls nicht über den Weg zu trauen.
Sie erreichten die Ausläufer des Exmoors und drangen, entlang der Klippen, immer tiefer, in die Heidelandschaft vor. Tief unter sich hörten sie, wie sich die aufgewühlte See tosend an den Felsen brach.
Ruhig und gespenstisch erstreckte sich vor ihnen das Moor.
„Simon, ich habe Angst!“, sagte Richie. „Was ist, wenn er uns nur hierher lockt, damit er uns die Klippen hinunterstoßen kann, um uns dann stückchenweise, mit seinen schuppigen Artgenossen, zu verspeisen?“, flüsterte er besorgt.
„Mir ist auch nicht ganz wohl bei der Sache. Wir sind jetzt schon über eine Stunde unterwegs, ohne zu wissen, wo es eigentlich hingeht, geschweige denn, wie weit wir noch laufen müssen“, entgegnete Simon ebenfalls flüsternd und darauf bedacht, dass Grewels sie nicht hören konnte.
„Grewels“, rief Simon zum Drachen hinauf. „Wo führst du uns eigentlich hin?“.
Der Drache wendete, blieb flatternd in der Luft stehen und sah die Jungen verärgert an.
„Nun, meine Freunde. Es ist nicht mehr weit. Seht ihr? Dort auf den hohen Klippen befindet sich das Tor nach Morana“, deutete Grewels nach vorn und flog weiter in Richtung auf sein Ziel. Simon und Richie grübelten darüber nach, wie dieses Tor wohl beschaffen sein mochte. Konnten sie einfach hindurchgehen, benötigten sie einen Schlüssel oder handelte es sich gar nicht um ein Tor im herkömmlichen Sinne? Aus der Ferne sahen sie jedenfalls nur bedrohliche, schwarze Klippen vor sich aufragen, an deren rauen Felsen sich die Wellen donnernd brachen und die Gischt, im Mondlicht, weiß schäumend emporstieg.
„Wahrscheinlich müssen wir noch ein Stück die Klippen hinabklettern und der Eingang befindet sich irgendwo in einer Höhle zwischen den Felsen“, mutmaßte Richie.
Grewels begann schneller vor ihnen herzufliegen und die Jungen mussten größere und eiligere Schritte machen, um dem Drachen noch folgen zu können. Es roch nach Heidekraut und Salzwasser. Der Mond, der hinter einer dicken Wolke wieder hervorkam, schien auf eine kleine Herde wilder Ponys, die jetzt im Dunkeln, dicht aneinander gedrängt, an einem Stechginsterbusch stand. Bis auf die Brandung, die gegen die Klippen schlug, den Flügelschlägen ihres mysteriösen Gefährten und die voraneilenden Schritte der beiden Freunde, war es beunruhigend still. Sie kamen dem Punkt, auf den Grewels vor einer halben Ewigkeit gedeutet hatte, immer näher. Simon ahnte schon wohin sie der Drache zu führen gedachte. Der Weg begann jetzt immer steiler anzusteigen und die Jungen mussten sich anstrengen, um mit Grewels mithalten zu können. Zielstrebig steuerte dieser auf den höchsten Punkt zu, der vor ihnen auszumachen war.
„Richie, ich habe das Gefühl, wir sind gleich da“, schnaufte Simon.
„Wieso glaubst du das?“, wollte Richie wissen, dem es überhaupt nicht wohl in seiner Haut war.
„Weil das dort vorn der höchste Punkt des Exmoors ist, der Great Hangman!“, erklärte Simon keuchend. „Ich war einmal mit meinem Dad hier oben. Und glaub mir, es wäre wirklich kein Spaß, jetzt auch noch in die Klippen klettern zu müssen. Denn von dort oben geht es über zweihundert Meter tief, fast senkrecht, ins Meer hinab. Ein Fehltritt und unser Abenteuer würde enden, noch bevor es richtig angefangen hätte“, fügte Simon trocken hinzu.
Richie wurde bei derlei Aussichten schlagartig kreidebleich im Gesicht und er konnte vor lauter Angst nur noch leise aufstöhnen.
„Worauf habe ich mich da nur eingelassen?“, seufzte er still in sich hinein.
„Augen zu und durch“, sagte er zu sich selbst. Jetzt waren sie schon einmal hier, also wollte er auch wissen, was diese Nacht noch alles für sie bereithielt.
Grewels, der den Gipfel der Klippe schon erreicht hatte, stand flatternd in der Luft und feuerte die Jungen auf den letzten Metern an. „Nur noch ein kleines Stück, dann habt ihr es geschafft. Strengt euch ein bisschen mehr an!“, kommandierte er Simon und Richie, die nun beide ziemlich erschöpft auf dem Gipfel des Great Hangman angekrochen kamen. Erschöpft ließen sie sich ins weiche Heidekraut fallen, wo sie einen Augenblick liegen blieben und nach Luft rangen. Gleichzeitig rappelten sie sich wieder auf und erblickten Grewels, der hoch über ihnen in der Luft stand, fast schwebend mit leichten Flügelschlägen.
„Ich kann kein Tor sehen“, sagte Richie an Simon gewandt. Es beschlich ihn das ungute Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Simon, der sich ebenfalls suchend umsah, wandte sich an den Drachen.
„Grewels, hier ist kein Tor!“, rief er hinauf.
„Habt einen kleinen Augenblick Geduld. Das Tor wird sich schon sehr bald öffnen und euch Einlass gewähren“, versicherte er ihnen aufmunternd.
Simon und Richie sahen sich ratlos an und die Angst kroch in ihnen hoch. Wind kam auf und das Tosen der Brandung, am Fuße der Klippen, wurde von Minute zu Minute, kraftvoller und lauter.
„Es ist soweit!“, erhob Grewels seine Stimme gegen die Brandung.
Um sie herum fing die Luft an zu flirren. Die nächtliche Szenerie des mondbeschienenen Exmoors löste sich vor ihren Augen auf. Sie fassten einander fest an den Händen. Der Great Hangman, auf dem sie mit dem Rücken zum Abgrund hin standen, fing an zu beben. Das Tosen der Wellen wurde immer kraftvoller und dröhnte in ihren Ohren. Der Mond war noch zu sehen, ansonsten begann alles in wabernder Dunkelheit zu versinken.
„Jetzt!“, rief Grewels donnernd in das Getöse hinein und aus seinen Nüstern schoss heißer Dampf. Mit einem Mal blähte sich der Drache bis zu einem Vielfachen seiner Größe auf und blies mit aller Kraft heißen Wind in Richtung der zwei Freunde. Der Strahl heißer Luft, der den Lungen des Drachen entwich, war so stark, dass er Simon und Richie von ihren Füßen riss und sie viele Meter weit, über den Abgrund des Great Hangman hinaus, aufs offene Meer trug, wo sie nach einer Weile trudelnd in die Tiefe stürzten.
Sie schrien so laut wie sie in ihrem ganzen Leben noch nie vor Angst geschrien hatten. Die Orientierung komplett verloren, rasten die armen Kerle mit mörderischer Geschwindigkeit dem aufgewühlten Meer und damit ihrem sicheren Ende entgegen. Alles was Simon noch wahrnehmen konnte, war ein schriller, gellender Schrei, der aus dem Nichts in sein Ohr drang.
Hatte der Drache sie reingelegt? Das war sein letzter Gedanke, bevor es still wurde und ihn nur noch Dunkelheit umfing.
„Ja, endlich!“, hallte Rodans Stimme von der Burg, über den See Eldor. Der mächtige Felsen, inmitten des Sees, auf dem durch den Zauber Asragurs Rodans Gefängnis erbaut wurde, begann zu beben. Die Nebel Eldors offenbarten ihrem Herrn, dass sich das große Weltentor geöffnet hatte und dem Auserwählten Einlass nach Morana gewährt wurde. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Asragurs letzter Zauber, durch Rodans erstarkende Macht, endgültig gebrochen wurde.
Düster lag die Burg auf dem nahezu schwarzen Felsen im See, dessen Ufer von gewaltigen Bergen und tiefen dunklen Wäldern gesäumt wurden. Ein stilles und kaltes Verlies, für die Ewigkeit errichtet, so schien es. Rastlos war Rodan die letzten Jahrhunderte in den kalten, nur von einigen Fackeln erleuchteten Gängen seines Kerkers umher gewandelt. Jeden Stein, von dem wuchtigen runden Turm, bis hinunter in den großen Saal, der finsteren Behausung, kannte er. Die Zeit der Abrechnung nahte. Und Rodan schwor sich, jeden, der sich ihm nicht unterwerfen würde, eigenhändig zu zermalmen.
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