„Danke, dass du uns gerettet hast. Wir stehen tief in deiner Schuld“, bedankte sich Simon höflich.
„Es war mir eine Ehre, euch diesen Dienst erweisen zu können. Mein Name ist Nephtor. Grewels hat mir schon viel von euch erzählt. In der Tat, er hat nicht übertrieben. Ihr Menschenkinder seid wirklich sehr mutig.“
„Wo ist Grewels?“, unterbrach Richie den Adler. „Er hätte uns beinahe umgebracht“, fügte er aufgebracht hinzu.
„Meine Freunde, Grewels wird zum richtigen Zeitpunkt mit euch in Morana zusammentreffen.“
„Was immer das heißen mag“, dachte Richie etwas säuerlich.
„Es war gewiss nie seine Absicht, euch zu hintergehen oder Schaden zuzufügen. Er mag ein zorniger und ungehobelter Drache sein. Aber glaubt mir, er hat das Herz auf dem rechten Fleck.“
Die beiden Freunde wurden nachdenklich und hofften insgeheim, dass der Adler die Wahrheit sprach.
„Sag mir, Nephtor“, bat Simon. „Wo genau bringst du uns hin? Und wie lange dauert es noch, bis wir dort ankommen?“
„Nun, mein Freund, wir haben noch einen langen Weg vor uns. Aber wenn morgen früh die Sonne am östlichen Horizont aufgeht, dann könnt ihr Morana schon in der Morgenröte liegen sehen. Mir wurde aufgetragen, euch bis an den Rand der großen Moorebene Xuria zu geleiten. Simon, dir steht eine schwierige und überaus gefährliche Aufgabe bevor. Ihr beide habt viel zu lernen, sonst könnt ihr gegen Rodan niemals bestehen. Was nicht nur euren Tod bedeuten würde, sondern auch den Untergang Moranas zur Folge hätte“, erklärte Nephtor den beiden Jungen.
Untergang, Tod? Simon wurde ganz mulmig zumute als er sich jetzt daran erinnerte, dass auch Grewels sie vor ihrer Abreise vor den Gefahren gewarnt hatte, die in Morana auf sie lauerten. Allerdings hörten sich die Worte des Adlers irgendwie beunruhigender an.
„Aber was sollen wir tun, Nephtor? Was können wir denn schon gegen den mächtigen Rodan ausrichten?“, fragte Simon den Adler um Rat.
„Vertraut auf das starke Band eurer Freundschaft, Simon. Denn dieses Band und die Weisheit der Elfen, werden dir die nötige Kraft verleihen, deine Bestimmung zu erfüllen“, erwiderte der Adler freundlich.
„Hab vielen Dank Nephtor“, sagte Simon.
Er und Richie krochen wieder zurück unter das wärmende Federkleid des freundlichen Adlers. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten sie arg mitgenommen und sie schliefen schnell wieder ein.
***
„Aufgewacht, ihr Schlafmützen!“, hörten sie Nephtors Stimme, die sie am nächsten Morgen aufweckte. Sofort waren Simon und Richie hellwach und schnell krabbelten sie zwischen den Federn hervor. Die Sonne ging auf und die drei flogen der Küste Moranas entgegen. Hohe Klippen stiegen senkrecht aus dem Meer empor, an denen sich gewaltige Wellen schäumend brachen.
„Mensch, Simon, sieh nur!“, rief Richie und zeigte aufgeregt auf die sich rasch nähernde Küste.
„Das sieht ja fast genauso aus wie die Klippen am Rande des Exmoors.“
Simon blickte der sich schnell nähernden Küste Moranas mit gemischten Gefühlen entgegen. Bei dem Gedanken an den gestrigen Ausflug ins Exmoor sträubten sich ihm jetzt noch die Nackenhaare. Die beiden Freunde wurden nachdenklich. Was würde sie erwarten? Wem würden sie begegnen und welche Gefahren würden auf sie lauern? War es wirklich Simon, der Morana retten konnte? Viele Fragen schwirrten durch ihre Köpfe und sie hatten Angst vor den Antworten, von denen sie wussten, dass sie unausweichlich auf sie zukommen würden.
Wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, so lag die Zukunft vor ihnen.
„Festhalten!“, rief Nephtor. „Es geht abwärts!“
Im Sturzflug raste der Adler auf die Klippen zu. Simon und Richie drehte sich der Magen um. Sie schlossen die Augen und hielten sich krampfhaft an den Federn des Adlers fest. Kurz bevor sie auf die Felsen aufschlugen, fing Nephtor ihren rasanten Flug mit ein paar kräftigen Flügelschlägen ab und drehte eine elegante Kurve. Sanft landeten sie im Gras.
Simon und Richie rutschten Nephtors Rücken hinunter und waren froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Noch etwas wackelig auf den Beinen sahen sie sich unsicher um.
„Es kommt mir so vor, als würde nur ein paar Meilen von hier, Tante Abys Haus stehen. Selbst die Klippen und die Heidelandschaft sehen aus wie zu Hause“, stellte Simon verblüfft fest.
„Nepthor, wo sind wir genau und was sollen wir jetzt tun?“, fragte er den Adler um Rat.
„Ihr seid am nordöstlichen Rand der Moorebene Xuria, Simon. Von hier an seid ihr vorerst auf euch allein gestellt. Geht in südlicher Richtung, entlang der Klippen, bis ihr den Fluss Andal erreicht. Wenn ihr dem Flussverlauf in westlicher Richtung folgt, gelangt ihr an eine große Felsenbrücke, die über den Fluss führt. Überquert diese und setzt euren Weg in südlicher Richtung fort. Schon bald werdet ihr an die Grenzen eines großen Waldes kommen, in dessen Mitte Leyhda, die unterirdische Stadt der Moorelfen liegt. Findet Elian, ihren Ältesten und sprecht vor dem großen Rat. Du trägst etwas sehr Kostbares bei dir, Simon: Die Schuppe Asragurs! Sie werden wissen was zu tun ist und ihr seid in Sicherheit. Sei dir also ihres Schutzes gewiss, vertraue deinem Herzen und überlasse dich ihrer Führung“. Der Adler breitete seine kräftigen Schwingen aus und machte sich daran aufzubrechen.
„Hab vielen Dank, Nephtor“, rief Simon ihrem neuen Freund hinterher.
„Wir werden uns wieder sehen, Simon Knox. Möge der Geist Asragurs euch beschützen.“
Lange sahen Simon und Richie dem Adler hinterher, bis dieser nur noch ein kleiner Punkt am blauen Himmel war.
„Und nun, was machen wir jetzt?“, fragte Richie fassungslos, auf einmal vollkommen auf sich allein gestellt zu sein.
Simon überlegte kurz. „Es ist ein schöner, warmer Tag. Wir sollten unsere Pullover und Jacken ausziehen und erst einmal etwas essen. Ich sterbe vor Hunger! Wo ist eigentlich dein Rucksack mit der Decke?“, wollte Simon wissen und zog sich seine Jacke aus. Richie, der irgendwie in seinem Pullover festhing antwortete: „Den hab ich wohl verloren als Grewels uns durchs Tor gepustet hat“, grummelte er missmutig.
„Hast du eine Ahnung, wie weit es bis nach Leyhda sein könnte?“
„Nein“, antwortete Simon und schaute auf die Schuppe des Drachenkönigs, die er aus der Hosentasche gezogen hatte. Sie färbte sich leicht gräulich und verlor allmählich ihr magisches Schimmern. Simon seufzte und zeigte sie Richie. „Wir machen nur eine kurze Rast und essen etwas. Unseren Proviant sollten wir uns gut einteilen. Keine Ahnung, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.“
Richie nickte. Auch er war ziemlich hungrig. Also suchten sich die beiden ein schönes Plätzchen auf den Klippen und verputzten jeder ein Sandwich und teilten sich den Apfel, den Tante Aby Simon, wie die Sandwiches, für seinen Ausflug nach Ilfracombe, mitgegeben hatte. Gut, dass Simon sein Taschenmesser dabei hatte, mit dessen Hilfe er den Apfel in zwei gleiche Stücke teilte. Sie schauten übers Meer und Richie fragte:
„Glaubst du, wir kommen jemals wieder nach Hause, Simon? Vielleicht suchen sie schon nach uns. Wie spät ist es eigentlich?“
Simon sah auf seine Uhr. „Hm, merkwürdig. Sieh mal, sie zeigt viertel vor zwei an“. Simon hielt Richie die Uhr hin.
„Das muss die Zeit gewesen sein, zu der wir durch das Tor gegangen sind. Vielleicht ist sie einfach nur stehen geblieben und läuft ganz normal weiter wenn wir auf dem Rückweg wieder durchgehen müssen?“, versuchte Richie die Uhrzeit zu erklären.
„Schon möglich“, erwiderte Simon. „Wir werden es erleben“, fügte er mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube hinzu.
Sie blieben noch ein Weilchen sitzen und Simon überprüfte den Kompass auf seine Funktionsfähigkeit. „Einwandfrei!“, stellte er erleichtert fest. Und so machten sich die beiden Freunde auf den Weg in ein ungewisses Abenteuer.
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