„Du wirst genau das bekommen, was du verdienst, Elf“, grollte Asragur und der Himmel begann sich zu verdunkeln. Ein mächtiger Sturm zog herauf und Eis und Schnee peitschten über das Land. Ganz Morana begann zu beben und aus dem See Eldor erhob sich ein gewaltiger Felsen aus den Wassermassen, auf dem, durch Asragurs Zauber, eine Burg entstand.
Jedes Wesen Moranas wurde Zeuge von Asragurs Worten, die der Sturm bis in die entlegensten Winkel des Landes trug.
„Rodan, du törichter Narr, höre meine Worte“, rief der Drache seinem Widersacher beschwörend entgegen. „Die Quelle der Hoffnung wird sich nur demjenigen offenbaren, der reinen Herzens kommt, um seinen Durst zu stillen. Nur ihm wird es bestimmt sein, den Auserwählten nach Morana zu geleiten. Denn eines fernen Tages, lange nach meiner Herrschaft, bevor die Quelle gänzlich versiegt, wird sich das große Weltentor öffnen und einem neuen Herrscher Einlass nach Morana gewähren. Er wird die Quelle durch seine Kraft und seine Hingabe für viele Jahre nähren und Morana in eine blühende Zukunft führen!“, dröhnten Asragurs Worte über das Land.
„Rodan“, fuhr Asragur zornig fort und erhob sich ein letztes Mal in die Lüfte.
„Fortan, bis ans Ende deiner Tage, wirst du auf die Felsenburg im See Eldor verbannt. Auf das wieder Frieden und Hoffnung in Morana einkehren mögen!“, sprach Asragur und stürzte sich in die Schlucht hinab, einem neuerlichen Zauber Rodans entgehend.
Der Schneesturm wurde so stark, dass Rodan und Oldur sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Ein letztes Mal hörte Rodan Asragur aus den Tiefen der Schlucht zornig aufbrüllen.
Alsbald schon spürte er den mächtigen Zauber des Drachenkönigs. Der eisige Sturm riss ihn und seinen ergebenen Diener mit sich fort, zu dem düsteren Felsen, auf dem Rodan bis ans Ende seiner Tage, in dem für ihn errichteten Verlies ausharren sollte.
Schwer verletzt und spürend, wie ihm die Kräfte schwanden, zog Asragur sich schutzsuchend, in die kalten Höhlen zurück, die tief in den Schluchten des Tularon-Gebirges verborgen lagen. Bevor er seinen letzten mächtigen Zauber über die Quelle legte, schrieb er seine Prophezeiung auf die heiligen Steine. Die Quelle ein letztes Mal mit all seiner Hingabe nährend, versank er für immer in deren Tiefen. Einzig eine Schuppe Asragurs, die er über dem Herzen getragen hatte, blieb am Rand der Quelle zurück.
„Bald ist es soweit“, dachte Rodan und schritt durch den großen, düsteren Saal der Burg. Schon in Kürze wird Asragurs Bann nicht mehr stark genug sein, ihn in seinem Gefängnis zu halten.
Der Auserwählte war also angekommen. Er würde ihn wie eine Kakerlake zerquetschen, schwor sich Rodan. Ein unheilvolles Lachen entrang sich seiner Kehle und wurde auf den See hinausgetragen. Die Zeit wurde knapp und er musste dem Auserwählten unbedingt zuvorkommen. Rastlos wanderte er hinauf zum Turm und blickte über Eldor, in dessen dunklen Fluten sich der Mond spiegelte. Sein bodenlanger, weiter Mantel, der aus den Federn der Raben gemacht war, die sich ihm nicht unterworfen hatten, blähte sich im aufkommenden Wind. Es hatte den Anschein, als wolle Rodan sich in die Lüfte erheben, um seinem feuchten Gefängnis zu entfliehen. Aber noch musste er sich gedulden.
Viel Zeit war vergangen und graue Strähnen zogen sich vereinzelt durch sein langes, schwarzes Haar. Zornig dachte er an all die Jahrhunderte voller Entbehrung, Kälte und Untätigkeit zurück.
„Die Raben!“, dachte er und ging zurück in den dunklen Saal.
„Oldur, Oldur!“, brüllte er durch die Burg. „Wo steckst du, Taugenichts?“
Eilig trippelnde Füße, huschten die alten Steinstufen zum Saal hinauf.
„Ihr wünscht, mein Herr?“, fragte Oldur sich vor Rodan verbeugend.
„Die Nebel Eldors brachten mir die frohe Kunde, dass der Auserwählte durch das Tor nach Morana gekommen sei, um Asragurs Erbe anzutreten.
„Das sind überaus erfreuliche Neuigkeiten, mein Gebieter“, antwortete Oldur.
„Schicke die Raben übers Land. Sie sollen mir täglich berichten. Ich muss wissen, welcher Tor, es wagt, sich mir in den Weg zu stellen und wer ihm dabei zur Seite steht“, befahl Rodan.
„Bald schon wird meine Zeit gekommen sein, fuhr er in Gedanken fort und ein grimmiges Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
„Was stehst du hier noch herum? Spute dich, sonst mach ich dir Beine! Oder möchtest du Futter für die Raben werden, Oldur?“, fragte er seinen Diener und lachte laut auf.
„Nein, Herr, nur das nicht! Ich eile!“, entgegnete Oldur kriecherisch und machte sich schleunigst daran den Befehl seines Herrn auszuführen.
Rauschen erfüllte Simons Ohren und er kam langsam wieder zu sich.
„Was für ein Albtraum“, dachte er und wagte nicht die Augen zu öffnen. Wo um Himmels Willen war er? Er lag ganz ruhig da. Irgendetwas unter ihm bewegte sich schwankend. Er hörte den Wind rauschen aber spürte ihn nicht.
Sie waren vom Great Hangman herunter gefegt worden und ins Bodenlose gestürzt. Grewels, der mysteriöse Drache, schien sich einen tödlichen Scherz mit ihnen erlaubt zu haben. Tja, dann mussten sie wohl tot sein und befanden sich auf der Reise ins Nirgendwo. Langsam machte Simon die Augen auf. Erst das eine, dann das andere. Er erstarrte! Spielten ihm seine Sinne einen bösen Streich? Richie, der rechts neben ihm lag, begann sich zu regen und zu stöhnen. Hoffentlich hatte sein Kumpel sich nichts gebrochen und behielt die Nerven, wenn er gleich gänzlich zu sich kam und das erblickte, was er bereits sah, sorgte sich Simon.
„Hey, Richie, wach auf!“, flüsterte Simon und rüttelte seinen Freund an der Schulter. Richie hielt sich den Kopf. Er hatte das Gefühl, dass dieser ihm gleich platzen würde. Langsam machte er die Augen auf, die sich im Nu so weiteten, dass Simon Angst bekam, sie würden ihm gleich aus den Höhlen springen.
„Ach du heiliger Schlamassel!“, entfuhr es Richie. Ruckartig setzte er sich auf und blickte sich verwirrt um. Er und Simon saßen zwischen den riesigen Federn, auf dem Rücken eines Vogels. Jedenfalls hoffte er, dass es ein Vogel war. Denn von sich aufblasenden, Feuer und heiße Luft speienden Drachen, hatte er vorerst die Nase gestrichen voll.
„Wie zum Henker kommen wir denn hierher?“, wollte er wissen.
„Hmm“, überlegte Simon und versuchte sich zu erinnern. „Ich glaube, Grewels hat uns, im wahrsten Sinne des Wortes, durch das Tor geblasen. Und als wir hindurch waren, sind wir in die Tiefe gestürzt. Ich kann mich noch an einen Schrei erinnern. Dann war alles dunkel. Ich dachte erst, das seist du gewesen. Aber jetzt vermute ich, dass es der Vogel war, auf dessen Rücken wir gerade sonst wohin geflogen werden. Sieht so aus als hätte er auf der anderen Seite auf uns gewartet, um uns aufzufangen“, schlussfolgerte Simon.
„Mag ja alles sein, aber wo bringt er uns jetzt hin? Und wo zum Teufel ist Grewels? Der hat uns diese Suppe doch eingebrockt!“, fluchte Richie. Zu Recht, wie Simon fand. Vorsichtig rappelte er sich, an einer riesigen Feder Halt suchend, auf die Knie und bedeutete Richie, es ihm gleich zu tun. Neugierig, aber doch ängstlich, steckten sie ihre Köpfe durch das Federkleid und sogleich erfasste sie ein eisiger Wind. Sie saßen tatsächlich zwischen den gewaltigen Schwingen eines mächtigen Adlers. Fast lautlos segelten sie durch die Lüfte und konnten bis zum Horizont nichts als Wasser sehen.
„Sei mir gegrüßt, Simon Knox, Retter von Morana und auch du, Richard Dawson, sei herzlich gegrüßt!“, vernahmen die Jungen die freundliche und klare Stimme des Adlers. Überrascht sahen sie sich an.
„Ich werd verrückt“, flüsterte Richie. „Ein Adler, der sprechen kann. Das wird uns niemals irgendjemand glauben“, wusste er jetzt schon mit Gewissheit zu sagen.
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