Etwas aus der Puste aber pünktlich erreichte er Mr. Twiggles Eissalon, der in der Highfield Road, Ecke Castle Hill lag.
Richard saß bereits auf den Stufen vor Mr. Twiggles Eis- und Süßwarengeschäft. Er hatte sein Fahrrad gegen die Mauer des kleinen roten Klinkerhäuschens, mit dem großen Schaufenster gelehnt. Seinen Rucksack auf den Knien, sah er Simon schon von weitem um die Ecke schießen, während ihm der Duft von frisch gebackenen Schokoladenkeksen, den verschiedensten Eissorten und allerlei anderer Leckereinen verführerisch in die Nase stieg.
Mit einer scharfen Bremsung kam Simon direkt vor Richies Füßen zum Stehen.
„Hallo Richie. Puh, was für eine Fahrt!“, schnaufte er. „Wo sind denn deine Sachen, oder hast du nur den Rucksack?“, wollte er atemlos wissen.
„Nein, nein“, antwortete Richie und erhob sich von den Stufen, um Simons Fahrrad neben das seine zu stellen.
„Die sind wohl schon auf dem Weg zu deiner Tante“, freute sich Richie. „Sie hat meinen Vater zum Tee eingeladen und ihn darum gebeten, meine Sachen gleich mitzubringen. Schließlich sollten Kinder ihre Ferien genießen und nicht auf allen vieren im Moor herumzukriechen. Das sei wohl nicht das Richtige für einen Jungen in meinem Alter…“, schloss Richie immer noch fröhlich grinsend.
„Hi, Hi, dein armer Vater“, kicherte Simon. „Ich kann mir schon vorstellen, wie sich dieser Vortrag angehört hat. Mir hat sie heute nämlich genau das gleiche erzählt. Und glaub mir, Abygale Greenwood kann sehr überzeugend sein. Da hat selbst ein Professor Dawson keine Chance, etwas Gegenteiliges zu behaupten“, lachte Simon und konnte sich den armen Professor fast bildlich vorstellen, wie er einen Vortrag zur korrekten Kindererziehung über sich ergehen lassen musste.
„Wusste ich es doch, dass Tante Aby etwas im Schilde führt“, sagte er zu Richie und freute sich auf ein paar unbeschwerte Tage mit seinem Kumpel.
„Ja, Gott sei Dank! Ich habe mich tatsächlich schon, tagein tagaus, durch die Büsche des Exmoors kriechen sehen. Deine Tante ist echte Klasse“, lachte Richie und sie betraten den Eissalon von Mr. Twiggles.
Mr. Twiggles Eissalon war das ultimative Süßwarenparadies für alle Schleckermäuler der Stadt, der näheren Umgebung und natürlich auch für jene, die hier nur ihre Ferien verbrachten. Simon liebte diesen Laden. Wann immer er bei Tante Abygale zu Besuch war, musste er diesem Schlaraffenland mindestens einen Besuch abstatten. Richard, der zum ersten Mal das süße, klebrige Vergnügen hatte, betrat nach Simon den Eissalon und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Mit weit aufgerissenen Augen blieb er in der Mitte des Ladens stehen und wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. So unscheinbar das zweistöckige Haus von außen auch anmuten mochte; von innen war es ein Traum für jede Naschkatze, egal ob groß oder klein.
Es herrschte wie immer Hochbetrieb. Auf der rechten Seite, neben der Tür, war ein großes Schaufenster, in das weiße breite Regale eingelassen waren. In großen, mit schweren Deckeln versehenen Gläsern, standen hier die unterschiedlichsten und köstlichsten Kekse, Plätzchen, Waffeln und Makronen, die ihren Duft im gesamten Laden verströmten. An das Schaufenster schloss sich das Herzstück von Mr. Twiggles Geschäft an, die Eistheke. Über dreißig verschiedene Sorten Eis wurden hier angeboten und es kamen jedes Jahr neue und immer raffiniertere Kreationen hinzu.
„Wow! Das ist der absolute Wahnsinn!“, rief Richie. Er löste sich langsam wieder aus seiner Starre, in die dieser bonbonfarbene Schleckerpalast ihn versetzt hatte und bahnte sich seinen Weg zu Simon. Richie ging vorbei an ebenso erstaunten und verzückten Gesichtern, die, wie er, nicht wussten, ob sie nun Brausedrops, Geleebohnen oder vielleicht doch Ingwerplätzchen und Eis kaufen sollten.
„Simon, das ist hier ja total abgefahren“, begeisterte sich Richie.
„Freut mich, dass es dir hier gefällt“, lachte Simon und wartete an der Eistheke darauf, bedient zu werden.
„So einen coolen Laden haben wir in Portsmouth nicht“, erkannte sein Freund neidisch, der immer noch nicht glauben konnte, dass es so viele verschiedene Eis- und Kekssorten gab.
Nach längerem Anstehen entschied sich Simon schließlich für eine Monsterkugel Rhabarber-Marzipan-Eis. Dazu gönnte er sich noch eine große Tüte gemischter Kekse, während Richie sich mit einer Kugel Erdbeereis und einer Tafel Pfefferminzschokolade den Nachmittag versüßen wollte. Sie verließen den Laden und setzten sich auf eine alte Bank, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im Schatten eines alten Baumes stand.
„Ach, da fällt mir ein, du wolltest mir doch irgendetwas unheimlich wichtiges erzählen“, erinnerte Richie seinen Freund schmatzend und schleckte genussvoll an seinem Eis.
„Richtig“, fiel es Simon ein. „Halt mal“, forderte er Richie auf und hielt ihm seine Waffel entgegen, auf der die Eiskugel in gefährliche Schieflage geraten waren. Richie nahm ihm das Eis ab und Simon fing an, in seinem Rucksack zu kramen. Nachdem er das Plättchen gefunden hatte, nahm er Richie das Eis wieder ab und drückte ihm das magisch schimmernde Ding erwartungsvoll in die Hand, das dieser sofort aufmerksam untersuchte.
„Das ist aber eine große Fischschuppe. Hast du die hier am Strand gefunden?“, fragte er Simon und blinzelte ihn über den Rand seiner Brille hinweg an.
„Nein, hab ich nicht. Die war am Montagmorgen, unter meinem Fenster, im Dach eingeklemmt. Ich hatte das Gefühl, als sei nachts jemand an meinem Fenster gewesen. Und stell dir vor, meine Mum hatte auch etwas gehört. Aber vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein und es gibt eine ganz einfache Erklärung dafür, wie dieses Teil auf unser Dach gelangt ist“, erzählte er und knabberte an seiner Eiswaffel.
Richie spielte mit dem Plättchen in seiner Hand und sah Simon nachdenklich an.
„Es war also unter deinem Fenstersims? Ok, lass mich mal überlegen. Eines kann ich dir jedenfalls jetzt schon sagen. Es handelt sich definitiv um die Schuppe eines Tieres. Einen Fisch können wir wohl ausschließen. Der springt nicht mal so eben aus dem Hafen und klettert ein paar Straßen weiter auf ein Dach.“
Simon kratzte sich ratlos am Kopf. „Aber was könnte es denn sonst gewesen sein?“, fragte er. „So viele schuppige Tiere gibt es doch nicht, oder?“
„Nein, sicher nicht“, entgegnete Richie in Gedanken vertieft.
„Mir fallen da nur Eidechsen, Schlangen oder…“
Er machte eine Pause und sah Simon mit weit aufgerissenen Augen an. „Drachen!“, stieß er plötzlich hervor.
„Drachen in Portsmouth?“ entfuhr es Simon und er sah Richie belustigt an.
„Ja, sicher, Rich. Die einleuchtende Erklärung überhaupt! Genauso wahrscheinlich wie auf Dächer kletternde Fische“, lachte Simon.
„Das war nur so eine Idee“, knurrte Richie beleidigt.
Sie verputzten die Reste ihrer Eiswaffel.
„Es hat die Farbe verändert“, ergänzte Simon. „Am Montag war es noch strahlendweiß und schimmerte wie Perlmutt. Seit heute Morgen ist es eher hellblau“, fügte er noch hinzu. Allerdings wusste er, dass Richie mit dieser Information genauso wenig etwas anfangen konnte wie er selbst. Und so steckte er die Schuppe vorerst zurück in seinen Rucksack.
Nachdem sie aufgegessen hatten, entschieden sie sich, ihren Ausflug, zu den Klippen im Moor, auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie waren spät dran, wollten Tante Abygale nicht mit dem Essen warten lassen und das Zelt für die Nacht aufbauen. Also schnappten sie sich ihre Rucksäcke, schlenderten zurück zu den Fahrrädern und radelten in aller Ruhe zurück nach Greenwood Castle.
Als sie am Haus von Tante Abygale ankamen, sahen sie, dass Professor Dawson die Sachen seines Sohnes gebracht hatte. Denn diese standen, ordentlich aufgereiht, rechts neben dem Treppenabsatz, im Flur. Wie Tante Aby ihnen mitteilte, haben sie und der Professor sich bei einer Tasse Tee und ein paar Gurkensandwiches ausgesprochen gut unterhalten. Nachdem er ihre Rosenbeete bewundert und ein paar höflich formulierte Ratschläge zur kindgerechten Feriengestaltung mit auf den Weg bekommen hatte, ging sie, zufrieden mit sich und dem Rest der Welt, in ihre Küche und bereitete ihren kleinen Gästen das Abendessen zu.
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