„Oh Mann, Richie, das ist ja Klasse!“, rief Simon begeistert.
„Du wolltest mir doch auch noch etwas erzählen“, erinnerte Richie ihn.
„Simon, bist du fertig? Wir fahren in fünf Minuten los, sonst verpasst du noch deinen Zug“, kam die zur Eile mahnende Stimme seiner Mutter aus dem Bad.
„Ja ok, Mum, ich beeile mich!“, rief Simon nach oben.
„Richie, ich muss noch ein paar Sachen zusammensuchen. Ich erkläre dir alles am Mittwoch. Wir treffen uns um 15:00 Uhr, vor Mr. Twiggles Eissalon, in Ilfracombe.
„Super, ist gebongt“, erwiderte Richie. „Ich kann sogar mein Fahrrad mitnehmen, hat Dad gesagt. Wir nehmen den Lieferwagen aus seinem Labor“, erklärte Richard, froh darüber, sich in Ilfracombe nicht irgendeinen rostigen Drahtesel ausleihen zu müssen.
Sie beendeten das Gespräch und Simon rannte hastig die Treppe hinauf. Es konnte nicht schaden, das Album und die Schiffsbilder mitzunehmen, entschied er und freute sich riesig darauf, mit seinem besten Freund die Ferien verbringen zu können. Nachdenklich glitt sein Blick über den Schreibtisch. Das runde, helle Etwas lag noch immer dort und schimmerte in der Morgensonne. Er betrachtete es abermals eingehend und strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche. Obwohl er fieberhaft über die Herkunft dieses merkwürdigen Plättchens nachdachte, wollte ihm eine einleuchtende Erklärung für dessen plötzliches Erscheinen auf dem Dach nicht einfallen.
„Was bist du?“, fragte er nachdenklich. Aber noch gab das kleine schuppenähnliche Ding sein Geheimnis nicht preis.
Simon seufzte. Zusammen mit Richie würde er bestimmt noch dahinter kommen. Also verstaute er das magisch schimmernde Plättchen nebst Fotoalbum und Fotos in einem Seitenfach seiner Reisetasche, schnappte diese und rutschte das Treppengeländer hinunter, in die Diele.
Die Ferien versprachen jetzt schon ein Riesenabenteuer zu werden und er freute sich zusehends auf die Zeit, die er mit Richie in Devon verbringen durfte; von Tante Abygales köstlichen Blaubeerkuchen und Ingwerplätzchen, die sie immer frisch zu backen pflegte, einmal ganz abgesehen. Er war nun abreisebereit und konnte es kaum erwarten, in Portsmouth Harbour in den Zug zu steigen.
Patricia Knox sah dem Zug noch lange hinterher, in den Simon vor ein paar Minuten eingestiegen war. „Was für ein Morgen“, dachte sie und seufzte abgehetzt. Natürlich waren sie wieder einmal viel zu spät dran gewesen. Dennoch hatten sie es, nach dem Überfahren mehrerer roter Ampeln geschafft, dem allmorgendlichen Berufsverkehr ein Schnippchen zu schlagen.
Pünktlich, um 10:23 Uhr, erreichten sie den Bahnhof von Portsmouth Harbour. Und nur wenige Augenblicke später, setzte sich, auf Gleis eins, der Zug, in Richtung Westbury, in Bewegung.
Patricias schlechtes Gewissen, Simon einen Großteil seiner Ferien allein bei Tante Abygale verbringen zu lassen, verflog, nachdem sie erfahren hatte, dass Richard Dawson mit seinem Vater ebenfalls den Sommer in Devon verbringen würde.
***
Abygale Greenwood lebte in einem sehr alten, aber schönen Haus in dem kleinen Fischerörtchen Fiddleton, das sich nur ein paar Meilen östlich der Kleinstadt Ilfracombe, zwischen Strand, hohen Klippen und den Ausläufern des Exmoors in die Landschaft schmiegte. Greenwood Castle, wie sie ihr Zuhause zu nennen pflegte, war ein aus Natursteinen erbautes, altes Gemäuer, mit kleinen Giebeln, einem schiefen Türmchen an der Ostseite und weißen Sprossenfenstern und Türen. Eine wuchtige, hüfthohe und mit Heidekraut bewachsene Mauer, aus groben Felsbrocken, rahmte einen verwilderten Garten ein, der nur durch ein kleines, rotes Tor zu betreten war.
Tante Abygale war eine begeisterte Hobbygärtnerin, auch wenn sich diese Leidenschaft, bei näherer Betrachtung des restlichen Anwesens, scheinbar nur auf die von ihr heißgeliebten Rosen- und Lavendelbeete beschränkte, die eine große Terrasse, an der Südwestseite des Hauses, säumten.
Inmitten eines mit bunten Sommerblumen und hohen Gräsern bewachsenen Gartens, stand eine mehrere hundert Jahre alte, knorrige Eiche, die dem kleinen Anwesen eine verwunschene und mystische Atmosphäre verlieh.
Niemand kannte das genaue Alter von Abygale Greenwood, dieser mitunter etwas schrulligen aber freundlichen und gütigen Dame, da sie auf diese recht unhöfliche Frage, stets das gleiche zu antworten pflegte: „Ach, als wäre das Alter wirklich von Bedeutung. Irgendwo zwischen einhundert und einhundertzwanzig Jahren. Ich fühle mich aber wesentlich jünger“, versicherte sie meist mit einem schelmisch wissenden Augenzwinkern.
Tante Abygale war hellauf begeistert, als sie gegen Mittag der Anruf ihrer Nichte Patricia erreichte, die ihr die Ankunftszeit von Simon in Barnstaple durchgeben wollte.
„15:35 Uhr am Bahnhof. Ach da freu ich mich aber. Ich habe den Jungen ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen“, beschwerte sie sich etwas halbherzig.
„Vielen Dank, Tante Abygale. Du hast wirklich etwas gut bei mir“, bedankte sich Patricia Knox und kurz beschlich sie erneut das schlechte Gewissen vom Morgen.
„Trish, liebes Kind, es ist doch alles in bester Ordnung. Ich freue mich wahnsinnig auf den Jungen“, bekräftigte Abygale Greenwood, rückte ihre Brille zurecht und machte sich nebenbei Notizen auf ihrer wöchentlichen Einkaufsliste.
„Er wird sich hier schon zu beschäftigen wissen, glaub mir“, versicherte sie ihrer Nichte. „Und wenn er dazu noch seinen Freund Richard mitbringt, umso besser, dann kommt hier mal wieder ein bisschen Leben in die Bude“, versicherte sie.
„Den halben Sommer mit so einer alten Schachtel wie mir verbringen zu müssen, das ist doch nun wirklich kein Spaß für einen Jungen in seinem Alter“, fuhr sie fort und schmunzelte in sich hinein.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, ging sie daran, das Zimmer für Simon zu richten und bereitete den Teig für die von ihm so heißgeliebten Blaubeertörtchen vor.
Indes saß Simon im Zug und während er vor sich hin träumte und aus dem Fenster schaute, versuchte er abermals, das Rätsel um das merkwürdige Etwas zu lösen, das ihm am Morgen, unter seinem Zimmerfenster, so unerwartet entgegen blinkte.
Er musste in Westbury und Exeter umsteigen und hatte auf der letzten Etappe seiner Reise einen schönen Fensterplatz mit einem Tisch, auf dem er ein paar Comics und sein Fotoalbum mit den Schiffsbildern ausgebreitet hatte. Aber wirklich konzentrieren mochte er sich darauf nicht. Ihm gegenüber saß ein dicker Mann mit rotem Gesicht und Schnurrbart, der, die Hände auf dem runden Bauch verschränkt und mit von der Nase gerutschter Brille, leise vor sich hin schnarchte.
Simon musste leise kichern und fütterte den kleinen, struppigen Hund, der zur Rechten seines schlummernden Herrchens saß. Die Reste seines Schinkensandwiches, nahm ihm der Hund vorsichtig aus der Hand, um sie dann genüsslich schmatzend zu vertilgen.
Tante Abygale war pünktlich um 15:35 Uhr am Bahnhof von Barnstaple, wo der Zug von Simon, auf Gleis zwei, ohne Verspätung, einfuhr.
Simon sah, wie sie am Ende des Gleises stehend, auf ihn wartete. Er freute sich riesig darüber, sie wieder zu sehen. Wie immer war sie akkurat gekleidet; mit weißer Bluse, deren Kragen durch eine alte Elfenbeinbrosche zusammengehalten wurde, einem beigefarbenen Tweedrock und festem, aber nicht plump anmutendem Schuhwerk. Sie wirkte ein wenig abgehetzt, denn ihr sonst so fest auf dem Kopf sitzender Haarknoten begann sich aufzulösen. Auf der Nasenspitze trug sie, wie so oft, eine kleine Brille, die ihr an einer Kette um den Hals hing, damit sie diese nicht verlor.
Mit offenen Armen kam sie Simon entgegen.
„Junge, schön, dass du endlich da bist“, rief sie und drückte ihn fest an sich. Sie roch frisch, nach Rosen und Lavendel, ganz so wie ihr Garten im Sommer.
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