„Hattest du eine gute Reise?“, wollte sie wissen.
„Hallo Tante Abygale“, erwiderte Simon freudig und ließ sich von ihr durch die zerzausten, roten Haare wuscheln.
„Ja, es hat alles gut geklappt. Wir waren mal wieder zu spät dran, heute Morgen, aber Mum hat richtig Gas gegeben, damit wir es noch rechtzeitig schaffen“, lachte er ihr entgegen.
„Ich hab schon mit ihr telefoniert und von der wilden Jagd zum Bahnhof gehört“, berichtete Tante Abygale halb lachend, halb kopfschüttelnd.
Sie selbst fuhr ein ziemlich altes Auto. Nicht so schnittig und sportlich wie das ihrer Nichte, sondern offensichtlich fast genauso alt wie sie selbst. So dachte Simon jedenfalls immer dann, wenn er das grau-rostige Gefährt sah. Aber Abygale Greenwood dachte nicht im Traum daran, sich in ihrem Alter noch ein neues Auto anzuschaffen. So fuhren sie also nicht ganz so rasant wie auf der Fahrt am Morgen, von Barnstaple ein paar Meilen nordöstlich nach Fiddleton, wo in Greenwood Castle Simons Sommerferien endlich begannen.
Nach ihrer Ankunft im Haus von Tante Abygale tranken sie Tee, und Simon verputzte ein halbes Dutzend der köstlichsten Blaubeertörtchen, die er je in seinem Leben gegessen hatte. Er zeigte ihr die neuesten Schiffsbilder in seinem Album und sie spielten ein paar Runden Scrabble, bis es Zeit war, zu Abend zu essen.
Nachdem Simon zwei große Portionen Hackbraten verschlungen hatte, saßen sie bis zum Einsetzen der Dunkelheit auf der Terrasse, wo Abygale Greenwood ihrem Großneffen eine ihrer fantastischen Geschichten erzählen musste.
Als belesene und gebildete Frau, hatte sie mit Simons Großonkel, Harold Greenwood, fast die ganze Welt bereist und konnte daher immer wieder neue und vor allem abenteuerliche Geschichten aus nahezu allen Erdteilen zum Besten geben.
Simon hörte fasziniert zu als sie ihm von ihrer Safari in Südafrika erzählte, wo sie mit ihrem Mann und einem Trupp von Großwildjägern auf der Spur von Menschen fressenden Löwen war. Angeblich sei der eine oder andere Teilnehmer dieser Expedition von dem unstillbaren Hunger der Löwen nicht verschont geblieben, schloss sie die heutige Erzählung mit schauerlichem Unterton in ihrer Stimme. Wie viel Handlung seine Großtante ihren ohnehin schon aufregenden Abenteuern hinzudichtete, war Simon ziemlich egal. Er war noch nie jemandem begegnet, der so viele schöne, spannende und fesselnde Geschichten erzählen konnte wie sie. Ihre Südafrika Geschichte brachte Abygale Greenwood dann auf die fantastische Idee, dass Simon und Richie doch in ihrem Zelt campen könnten, in dem sie auf dieser Expedition wochenlang im Busch gelebt hatte. Simon war begeistert. Diese Ferien konnten einfach nur schön werden.
Schon am nächsten Tag machten sich die beiden auf die Suche nach dem Zelt, das in eine Plane gewickelt, irgendwo auf dem Dachboden von Greenwood Castle, zwischen all den vielen Andenken längst vergangener, abenteuerlicher Reisen versteckt war. Simon konnte nur staunen, was seine Großtante über all die Jahre alles zusammengetragen hatte. In der einen Ecke standen imposante Holzfiguren und furchterregende Masken aus Afrika neben kunstvoll geschnitztem Elfenbein. Ein handgearbeitetes Schachspiel aus grüner und weißer Jade, das sie von einer ihrer Reisen nach China mitgebracht hatte, stand auf einem kleinen, mit Gold verzierten, aber ziemlich verstaubten Tischchen, zwischen unzähligen asiatischen Laternen.
Des Weiteren gab es zahllose Schwerter, kunstvoll gearbeitete Dolche und antike Pistolen, die sein Großonkel, nebst einem jetzt mottenzerfressenen Tigerfell, aus Indien und Pakistan mitgebracht hatte.
In einer kleinen, mit eisernen Beschlägen versehenen Truhe, fand Simon vergilbte Land- und Seekarten sowie einen kleinen aufklappbaren Kompass aus angelaufenem Messing, den er zusammen mit einem Fernglas an sich nahm.
„Man weiß ja nie, wozu man diese Dinge noch gebrauchen könnte“, überlegte er.
Nachdem sie das Zelt gefunden und in den Garten geschafft hatten, wo es auslüften sollte, machte Simon sich daran, das rostige Fahrrad, das im Schuppen hinter dem Haus stand, wieder fahrtüchtig zu machen. Viel war an dem alten Rad nicht zu tun. Er flickte den Vorderreifen, gab ordentlich Luft in beide Räder, befreite den Rahmen von Schmutz und Staub und stellte sich den Sattel neu ein. Schließlich plante er mit Richie die eine oder andere Tour durchs Exmoor zu machen.
Einen Teil des Nachmittags verbrachte er mit Tante Abygale in den Rosenbeeten und half ihr beim Unkrautjäten. Die Zeit, in der sie das Abendessen zubereitete, nutzte er, um sich am Strand nach Muscheln und Steinen umzuschauen, die er für sein Leben gern sammelte. Auch wenn er die meisten Steine wieder zurück ins Wasser warf und die Auswahl an Muscheln, die er letztlich mit nach Hause nahm, relativ spärlich ausfiel.
***
„Endlich Mittwoch“, freute sich Simon am nächsten Tag. Richie und sein Vater waren bestimmt schon auf dem Weg nach Ilfracombe, dachte er aufgeregt. Endlich konnte er seinem Freund von dem rätselhaften Fund erzählen, den er vor zwei Tagen gemacht hatte. Vielleicht hatte Richie eine Erklärung für das schuppenähnliche Ding, das ihn, bei jeder weiteren Betrachtung, immer tiefer in seinen Bann zog. Es wirkte heute aber nicht mehr ganz so strahlend und hell wie noch vor zwei Tagen. Er hatte das Gefühl es veränderte sich.
Schnell packte er den Kompass, das Fernglas, etwas Geld und sein mysteriöses Fundstück in seinen Rucksack und stürmte die Treppe hinunter, in die Küche, zu Tante Abygale.
Sie war gerade dabei, Simon ein paar Sandwiches für seinen Ausflug zu machen, als dieser, gut gelaunt, hereingestürmt kam.
„Soll ich dich nicht doch lieber fahren, Junge?“, fragte sie etwas besorgt. „Ich fahre später sowieso noch nach Ilfracombe rein und könnte dich bei Mr. Twiggles Eissalon absetzen.“
„Nein, nein, Tante Aby“, lehnte Simon dankend ab. „Richie wird sein Fahrrad auch dabei haben. Wir wollen vielleicht noch ins Exmoor fahren“, fügte er freudig hinzu.
„Gut, wie du meinst“, seufzte sie. „Aber, dass ihr mir ja vorsichtig seid und nicht zu nah an die Klippen heranfahrt. Es geschehen jedes Jahr aufs Neue schreckliche Unfälle, weil die Menschen, die hier ihre Ferien verbringen, einfach zu unachtsam sind“, ermahnte sie ihn, wickelte die Sandwiches ein und drückte ihm noch einen Apfel in die Hand.
„Also los, schwirr ab! Und vergiss nicht, um sieben Uhr essen wir und du wolltest mit Richard noch das Zelt aufbauen. Sonst wird das heute nämlich nichts mehr mit eurem Safaricamp. Und solltest du Professor Dawson noch sehen, dann bestell ihm bitte schöne Grüße von mir. Richard ist herzlich willkommen. Es macht auch keine Umstände. Ich begreife bis heute nicht, wie man annehmen kann, dass ein Junge von elf Jahren Spaß daran findet, mit seinem Vater, auf allen vieren, durchs Moor zu kriechen, nur um irgendeinen Pilz zu finden“, sinnierte sie vor sich hin.
„Flechte!“, verbesserte Simon sie.
„Was?“, fragte Tante Aby verdutzt nach.
„Er sucht nach einer bestimmten Flechten- oder Moosart, hat Richie mir erzählt.
„Wie dem auch sei“, winkte Abygale ab. „Ob Pilz, oder Moos, oder was auch immer, alles Mumpitz! Kinder sollten ihre Ferien genießen können. Der Ernst des Lebens kommt schon noch früh genug“, beendete sie ihren kleinen Vortrag und verabschiedete Simon, der sich im Nu den Rucksack auf den Rücken schnallte, sich auf sein Fahrrad schwang und davon sauste.
Sie sah ihm lächelnd hinterher und entschied sich, da sie bis zum Tee noch etwas Zeit hatte, ein Mittagschläfchen im Schatten der alten Eiche zu halten.
Simon trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Er wollte auf gar keinen Fall zu spät kommen und raste, in halsbrecherischem Tempo, die Küstenstraße entlang. Er ließ das Pier Hotel am Hafen hinter sich und bog links in die Quayfield Road ab. Geradewegs schoss er auf die nächste Kreuzung zu, überquerte die Victoria Street, um dann scharf rechts, in die Highfield Road zu fahren.
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