Er wurde neugierig, reckte sich gefährlich weit über den Fenstersims und griff nach dem funkelnden Ding. Aber vergeblich. Er rutschte noch ein Stückchen vor. Sein Arm wurde immer länger und nach einigen Anstrengungen hielt er ein sonderbar funkelndes Plättchen in seinen Händen. Es war ein wenig elastisch, aber dennoch fest. Ähnlich wie Perlmutt, das sich im Inneren einer Muschel bildet, schimmerte es in seiner Hand.
Die Schuppe eines großen Fisches vielleicht? Aber wie sollte diese auf das Dach kommen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen und kroch, noch immer in Gedanken vertieft, zurück in sein Zimmer.
„Simon, ich hoffe du bist endlich aufgestanden. Dein Kakao war einmal warm“, vernahm er die jetzt nicht mehr ganz so verständnisvolle Stimme seiner Mutter, die ihn aus seinen Gedanken riss.
„Ja, Mum, ich bin in fünf Minuten unten!“, rief Simon hinunter und trottete den Flur entlang ins Bad. Kurz etwas kaltes Wasser ins Gesicht, Zähne geputzt und die Haare einmal schnell durchgekämmt. „Das muss für heute reichen“, dachte sich Simon, schlüpfte schnell in Jeans und T-Shirt, stopfte wahllos die nötigsten Sachen in seine Reisetasche und rannte die Treppe hinunter, in die Küche, wo seine Mutter hinter ihrer Zeitung saß und so tat, als sei sie die Ruhe selbst.
Über eine Ecke ihrer Zeitung hinweg, sah sie Simon mit hochgezogener Augenbraue an.
„Guten Morgen, mein Schatz. Ich hoffe, du hast gut geschlafen?“ Irgendwie hatte sie es tatsächlich noch geschafft, sich ihre Haare auf diese großen hellblauen Lockenwickler, zu drehen.
„Hmm“, murmelte Simon. „Ist noch Orangensaft da?“
„Setz dich und iss deine Eier, Liebes. Ich bring dir ein Glas“, erwiderte Patricia, legte ihre Zeitung beiseite, ging zum Kühlschrank und kam mit einem Glas Saft wieder an den Tisch zurück.
Lustlos stocherte Simon in seinem Omelett herum.
Sie sah in prüfend an. „Sag mal, Sohnemann, bist du heute Nacht vielleicht wieder auf dem Dach herumspaziert? Ich hab dir, glaube ich, schon mehrmals gesagt, dass ich nicht möchte, dass du deine Murmeln in der Dachrinne versenkst. Irgendwann purzelst du noch selbst hinterher und ich kann dann die Feuerwehr, einen Krankenwagen und weiß Gott wen anrufen. Das muss doch wirklich nicht sein, oder?“
Sie stellte ihm das Glas Orangensaft auf den Tisch, ohne jedoch ihren prüfenden Blick von ihm zu wenden. Sie schien, am frühen Morgen, doch tatsächlich so etwas wie eine Antwort von ihm zu erwarten.
„Nein, das war ich nicht“, murrte Simon. „Meine Murmeln hab ich bereits alle in der Regentonne versenkt. Ich will sie noch herausfischen, bevor wir fahren“, entgegnete er abwesend. Mit seinen Gedanken war Simon immer noch bei diesem seltsamen Plättchen, das er zuvor zwischen den Dachschindeln gefunden hatte.
War vergangene Nacht wirklich jemand an seinem Fenster gewesen? Und was war das für ein seltsames Kratzen an der Scheibe? Seine Mutter schien doch auch etwas bemerkt zu haben. Besser, er behielt seine Gedanken vorerst für sich, bevor er sich blamierte. Vielleicht sollte er Richie von seiner Entdeckung berichten, schließlich hatten sie vereinbart, einander zu schreiben.
Patricia zögerte und schien noch auf eine ausführlichere Antwort ihres Sohn zu warten; gab es dann aber auf. „Na, dann werden es wohl ein paar Katzen gewesen sein“, seufzte sie, setzte sich wieder, überprüfte den Sitz ihrer Lockenwickler und widmete sich abermals ihrer Zeitung.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, der Abwasch erledigt und Simons Lunchpaket für die Reise gerichtet war, schlenderte dieser zur Regentonne. Kopfüber hing er nun, mit strampelnden Beinen, über der verbeulten Tonne, die verdeckt von einem verwilderten Ligusterbusch hinter dem Haus stand.
Mühsam fischte er die bunten Glaskugeln aus dem trüben Wasser und ließ sie in einem kleinen braunen Lederbeutel verschwinden. Viel Regenwasser hatte sich glücklicherweise nicht in der Tonne gesammelt, so dass er einigermaßen trocken wieder aus ihr hervorkroch.
Er sah an sich herunter: „Gott sei Dank, alles noch sauber“, seufzte Simon erleichtert. Seine Mutter hätte nämlich keineswegs gezögert, ihn sich noch einmal umziehen zu lassen. Und dazu hatte er nun überhaupt keine Lust.
„Ich muss Richie anrufen!“ schoss es ihm durch den Kopf. „Ich muss ihm von meiner Entdeckung berichten!“
Simon sprang die Treppe zum Haus hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Als er in der Diele stand, lauschte er kurz. Seine Mutter schien sich oben im Bad ihren Lockenwicklern zu widmen. Er ging zu dem kleinen, runden Holztischchen neben der Treppe, auf dem das Telefon stand und wählte die Nummer der Familie Dawson. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen und er hörte die etwas schrille aber freundliche Stimme von Emma Dawson, Richies Mutter.
„Ja, bitte“, meldete sie sich.
„Guten Morgen, Mrs. Dawson. Hier ist Simon. Darf ich bitte mit Richie sprechen?“
„Simon, Junge, das ist aber schön, dass du dich noch einmal meldest“, begrüßte sie ihn fröhlich. „Ich dachte du wärst schon auf dem Weg zu deiner Tante. Oder fährst du erst morgen? Hast du schon gepackt, wie geht es Patricia?“ Die Fragen schossen nur so aus ihr heraus.
Etwas überrumpelt antwortete Simon: „Ähm, ja, heute. Ich fahre heute. Ich wollte vorher unbedingt noch mit Richie sprechen!“
„Richard, Richard!“, rief Emma Dawson nun durch das ganze Haus. „Einen kleinen Moment bitte noch, Simon. Er ist gleich da. Riiichaard! Simon ist am Telefon. Beeil dich, er hat nicht viel Zeit!“, rief sie jetzt so laut, dass wohl auch die Nachbarn mitbekommen haben dürften, das er am Telefon war.
Simon hörte wie Richie die Treppe hinunter gestürmt kam und Emma Dawson, die flüsternd sagte: „… dann kannst du ihm die gute Nachricht ja gleich selbst übermitteln.“
„Ja, Mum, danke“, schnaufte Richie völlig außer Atem und riss seiner Mutter auch schon den Hörer aus der Hand, noch bevor diese Simon sagen konnte, er möchte seiner Mutter bitte die allerbesten Grüße ausrichten.
„Hallo Simon“, keuchte Richie in den Hörer.
„Ich muss dir etwas erzählen“, beeilten sich beide gleichzeitig ihre Neuigkeiten loszuwerden.
„Ok, du zuerst“, sagte Simon.
„Was hat deine Mutter mit guten Nachrichten gemeint?“, hakte er neugierig nach.
„Du wirst es kaum glauben“, fing Richie bedeutungsvoll an.
„Mein Vater wird in den Ferien auf eine Forschungsreise gehen und ich darf ihn begleiten“, teilte Richie seinem Freund aufgeregt mit. Simon stöhnte innerlich laut auf und fragte sich, was an dieser Neuigkeit denn gut sein sollte.
Richies Vater, Professor Gerald Dawson, war Biologe und als Leiter der Forschungsabteilung für einen Pharmakonzern tätig. Es überraschte Simon nicht wirklich, dass Professor Dawson sich wieder einmal auf die Reise machte, um in den entlegensten Winkeln dieser Welt nach noch unbekannten Pflanzen zu suchen. Was Simon allerdings wunderte war, dass Richie seinen Vater dieses Mal auf eine solche, nicht ganz ungefährliche Expedition begleiten durfte.
„Wir fahren ins Exmoor, wo er die Vorkommen bestimmter Flechten und Moose mit denen im Dartmoor vergleichen will“, riss Richie Simon aus seinen Gedanken.
„Jedenfalls versucht er nachzuweisen, dass die „Opegrapha fumosa“, eine überaus seltene Flechtenart, nicht ausschließlich endemisch im Exmoor beheimatet ist“, schloss Richie stolz seinen kurzen Exkurs in die heimische Flora.
„Ihr fahrt ins Exmoor?“, fragte Simon ungläubig nach, bei dem der Groschen langsam zu fallen begann.
„Ja, ist das nicht super?“, jubelte Richie, sprang in die Luft und wäre vor Freude fast über Daphne, die dicke Katze der Dawsons, gefallen, die schnurrend um seine Beine strich.
„Wir werden in einer kleinen Pension in Ilfracombe wohnen“, fuhr er fort. „Verstehst du? Das heißt, wir könnten die Ferien miteinander verbringen und eine Menge Spaß haben, Simon. Wir fahren Mittwoch in aller Frühe los“, erzählte Richie, ganz aus dem Häuschen.
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