„Einen Brief an meine Frau?“, rief Georg erstaunt.
„Und jetzt hätte ich ihn heilig vergessen, abzugeben, wenn wir nicht zufällig darauf gekommen wären!“, rief Wolf, indem er hastig in seine Brusttasche griff und das zierlich gefaltete Schreiben herausholte. „Wie ich aber nur hörte, dass Sie so ganz in der Nähe wohnten, erklärte ich bestimmt, Sie direkt am nächsten Tage aufzusuchen, und er bat mich dann, den Brief hier an Sie zu bestellen.“
„Und von wem ist der Brief?“
„Von Frau von Hopfgarten.“
„Ja, wahrhaftig, das ist ihre Handschrift“, rief Georg rasch, „und wie hieß der Herr, kenne ich ihn oder kennt er mich?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Wolf, „aber vermutlich doch. Grüße hat er mir allerdings nicht aufgetragen. Sein Name ist Fortmann.“
„Fortmann? Fortmann?“, wiederholte Georg, ein paar Mal nachdenkend. „Ich selber kenne keinen Fortmann, so viel ich mich erinnern kann, und doch ist es mir so, als ob ich den Namen schon öfter gehört hätte. Fortmann – wie einem manchmal so etwas im Gedächtnis liegt, ohne dass man im Stande ist, einen festen Halt davon zu bekommen. Man sieht es, wie durch den halbdichten Wipfel eines Baumes, in unbestimmten Umrissen und kann trotzdem dem Dinge keine Gestalt und Form geben.“
„Es ist dasselbe“, meinte Wolf, „wenn man sich manchmal auf einen ganz bekannten Namen besinnt und kann ihn nicht finden. In unserem Hirn hat sich irgendeine Schicht über diese Erinnerung gerade geschoben, und zufällig kommen wir dann vielleicht erst später darauf – übrigens ist dieser Fortmann, wie er mir im Gespräche erzählte, Friedensrichter in Covington, einer kleinen Stadt, die Cincinnati gerade gegenüber auf dem Kentucky-Ufer liegt, und ich bin ihm unendlich dankbar dafür, mich auf Ihre Spur geführt zu haben. Ich weiß gar nicht, wie es mich geschmerzt haben würde, wenn ich später vielleicht einmal erfahren hätte, dass wir so nahe beieinander gewesen und uns doch nicht gefunden.“
„Aber dann bleiben Sie jetzt auch wenigstens so lange bei uns, als es irgend Ihre Zeit erlaubt.“
„Die wird knapp gemessen sein“, sagte Wolf achselzuckend. „Sie wissen so gut wie ich, was alles an Bord eines Dampfers und mit einem solchen unterwegs geschehen kann, aber es fährt sich bequemer als auf der Bahn, nur d e r Gefahr darf ich mich nicht aussetzen, meinen Anschluss zu versäumen.“
„Also Ihre Braut weiß, dass Sie kommen?“
„Ich hoffe es“, sagte Wolf, und ein leiser Schatten flog über seine sonst so offenen Züge. „Aber seit Jahren schon habe ich keinen Brief von daheim, obgleich ich selber immer fleißig geschrieben.“
„Keinen Brief?“, sagte Georg erstaunt.
„Nein“, erwiderte Wolf kopfschüttelnd. „Doch Du lieber Gott, wie habe ich mich auch in der Zeit umhergetrieben. Ich konnte ihnen ja gar keine bestimmte Adresse angeben und hatte nur noch gehofft, in Cincinnati poste restante 40Briefe anzutreffen – umsonst. Ob sie verloren gegangen sind? – Es sollen zwei Dampfer in dem Jahre gescheitert sein – ob sie von der Blockade 41nicht durchgelassen wurden, ich weiß es nicht, will mir aber jetzt meine Antwort selber holen, und das ist jedenfalls das Sicherste. Georg, mir will das Herz vor Freude in der Brust zerspringen, wenn ich mir den Moment ausmale, wo ich wieder zum ersten Mal zu ihr in die Stube trete.“
„Es sind lange Jahre darüber hingegangen, Wolf“, sagte Georg, bedenklich mit dem Kopf schüttelnd.
„Bah, was tun die Jahre“, lachte Wolf, „wir waren damals beide überdies zu jung, sie noch nicht einmal sechszehn, ich zweiundzwanzig; das tut selten gut. Nun haben wir beide unsere Prüfungszeit bestanden, und ich bin meines Glückes sicher.“
Ihr Gespräch wurde hier gestört, denn die Familie wollte ebenso wenig Georg wie den jungen Fremden so lange entbehren. Dass er außerdem bei ihnen übernachtete, verstand sich ja doch von selbst.
Georg arbeitete indes, wie uns da ja sehr häufig so geht, der gehörte Name im Kopf herum. Während Marie, glücklich über den Brief, für kurze Zeit hinunter in ihr Zimmer eilte, um ihn rasch zu lesen – denn uneröffnet hätte sie ihn kaum zehn Minuten in der Tasche mit herumtragen können – schritt er nachdenkend mit untergeschlagenen Armen hinten im Saal auf und ab.
„Na, Georg, was gibt’s?“, frug ihn Kellmann, der jetzt zu ihm hinantrat. „Was haben Sie? Ist etwas vorgefallen?“
„Bewahre! – Aber ein Name geht mir im Kopf herum. Kennen Sie einen gewissen Fortmann?“
„Ich kenne ihn nicht“, meinte Kellmann, „aber Hopfgarten gab mir damals, als ich nach Amerika ging, einen Brief an einen Herrn dieses Namens mit nach New Orleans.“
„Das ist recht!“, rief Georg ordentlich erfreut. „Und über den haben wir auch gesprochen, und Sie konnten den Herrn damals, wenn ich nicht irre, nirgends antreffen.“
„Aus dem Grund, weil er New Orleans verlassen und keinem Menschen gesagt hatte, wohin er sich wenden würde.“
„So kann ich Sie jetzt auf die Spur bringen“, sagte Georg. „Wolf vom Berge hat ihn in Cincinnati gesprochen, und er soll Friedensrichter in Covington, Cincinnati gegenüber, sein.“
„Dann suche ich ihn auch nächstens dort auf, denn in einigen Tagen muss ich ja doch nach Cincinnati, um von dort verschiedene Maschinenstücke zu holen und andere zu bestellen. Aber da haben wir Musik – wahrhaftig, Ihr Freund und unser Käthchen. Alle Wetter, der Herr hat eine prachtvolle Stimme, hören sie nur:
,Von der Straße her ein Posthorn klingt,
Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz?’“ 42
Wolf sang das Lied so seelenvoll und doch dabei mit solchem Feuer und einer so herrlichen Tenorstimme, dass er bald alle um sich her versammelte und Katharine ihn immer leiser und leiser begleitete, damit sie nur ja nicht die Stimme übertönte, und lauter Jubel brach aus, als er geendet. Er konnte aber nicht bewogen werden, für heute noch ein zweites zu singen. Er war angegriffen von der Reise, sagte er, und dann hatte das Lied auch so alte, teure Erinnerungen in ihm wachgerufen, dass er diese nicht gern durch eine andere Melodie stören mochte. Aber das junge Volk hatte auch kaum die ersten Töne gehört, als sie schon spekulierten, ob sich die einmal begonnene Musik nicht auch zum Tanz verwerten ließe, und kaum war der Wunsch laut geworden, als sie förmlich Sturm liefen, um ihn erfüllt zu sehen. Das junge Volk setzt auch bei solchen Gelegenheiten alles durch, und es dauerte nicht lange, so drehten sich die Paare, alte und junge gemischt, im fröhlichen Kreis.
In Donnersville.
Da Wolf an diesem Abend seinen festen Entschluss ausgesprochen hatte, mit seiner jungen Frau wieder nach Amerika zurückzukehren, so sollte er, ehe er diese Gegend verließ, jedenfalls das kleine Städtchen Donnersville besuchen, um sich den Platz einmal anzusehen. Hatte er sich doch noch keineswegs über seinen künftigen Wohnsitz fest bestimmt, und man kam deshalb überein, dass Georg ihn begleiten wollte. Nach einer solchen Feierlichkeit, wie sie der gestrige Tag geboten, konnte man von den Leuten doch nicht viel Arbeit verlangen. Sie hielten gewissermaßen einen blauen Montag, um sich wieder zu neuer Tätigkeit zu stärken, und Georg Donner gestattete ihnen den auch gern.
Übrigens waren ihm frische Einwanderer angemeldet worden, die Abgeordnete nach Donnersville geschickt hatten, um sich die Gegend einmal anzusehen, und es lag ihm daran, sie selber zu sprechen und ihnen die Bedingungen mitzuteilen, unter denen sie hier in der Nachbarschaft das Land, das er zum größten Teil selber angekauft, bekommen könnten. Fielen sie Zwischenhändlern in die Hände, so wurden sie gewöhnlich um eine Menge Geld geprellt.
Die beiden jungen Leute trabten munter auf ein paar vortrefflichen Rappen in die Stadt hinein, stiegen vor der Mermaid ab und ließen ihre Pferde dort einstellen.
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