Es ist recht schön und gut, wenn wir sagen: Jeder Mensch hat die nämlichen Anrechte – wir sind alle gleich vor Gott und dem Gesetz, und niemand darf sich besser dünken als sein Nebenmann. Im Prinzip wird jeder billig denkende und vernünftige Mann das anerkennen; damit ist aber nicht gesagt, dass wir mit jedem solchen auch einen innigeren und freundschaftlichen Verkehr halten sollen. Es ist im Leben so wenig eine Güter- wie Geistesgemeinschaft möglich; wir alle, vom Tagelöhner hinauf bis zum regierenden Fürsten, suchen uns die Gesellschaft, in der wir uns wohl fühlen. Wir brauchen die andere deshalb nicht zu verachten, aber wir befinden uns in derselben nicht behaglich, nicht in unserer Sphäre, und vermeiden sie deshalb oder suchen sie wenigstens nicht auf.
Der Bauer verkehrt am liebsten mit dem Bauer, schon weil sie gemeinschaftliche Interessen haben, über die sie sich miteinander aussprechen können; der mehr gebildete Mann will sich nicht den ganzen Abend über Düngmittel, Aussaat und Vieh unterhalten. Der Handwerker weiß nichts von den neuesten Erscheinungen der Literatur oder Kunst und interessiert sich nicht dafür; der Schauspieler lebt ausschließlich in seinem Beruf und teilt das Menschengeschlecht nur in Kollegen, Publikum und Rezensenten, – der Adel spricht am liebsten vom Theater und Ballet, von Pferden, Ordensverleihungen und Soiréen, wer da also nicht auf seine Ideen eingehen kann, ist ihm kein willkommener Gesellschafter, ohne dass er deshalb geringschätzig über ihn zu denken braucht. Ich mag einen Mann aus voller Seele achten, aber unsere Interessen laufen nebeneinander hin ohne sich zu berühren, und wir empfinden gegenseitig – wenigstens hier in unseren geregelten Verhältnissen; keinen ausreichenden Stoff zu längerer Mitteilung.
Scheinbar anders ist das in Amerika, aber auch nur scheinbar, denn in Wirklichkeit verhält es sich dort genauso wie hier bei uns. Dort kommen wohl alle Stände ohne Unterschied zu geselligem Verkehr zusammen; sehen wir uns aber die Leute an, durch welche sie vertreten werden, so finden wir doch immer wieder genau das Nämliche wie bei uns. Handwerker und Tagelöhner, Doktoren, Advokaten, Theologen finden sich allerdings oft an ein und demselben Tisch und plaudern gesellig durcheinander; aber die Leute, die hier oft die gröbsten Arbeiten verrichten, waren daheim nicht dafür erzogen. Mit der nötigen Bildung wohl versehen, aber sonst unpraktisch oder mittellos, konnten sie in Deutschland sich nicht so am Leben erhalten, wie sie es gewöhnt waren. Sie wanderten also aus und mussten sich eine neue Bahn suchen – aber ihren alten Gesellschaftskreis behielten sie trotzdem bei. „Arbeit schändet nicht“ – das ist das Zauberwort, was dort alle Kreise vereinigt, und wo sich ein Mann anständig und makellos betrug, da konnte er, und ob er am Tage die Straße fegte und nur mit seiner Erziehung in eine bessere Gesellschaft passte – Zutritt zu allen finden und war willkommen, wo er sich nur zeigte.
Und wie das bei dem herrlichen und warmen Wetter in dem Garten lebte und webte, und Marie Donner, die immer noch sehr jugendliche Frau, dazwischen herumwirtschaftete, und eine ganze Kinderschar, zahlreich fast wie eine losgelassene Schule, da viele der Gäste ihre Kleinen ebenfalls mitgebracht hatten, auf dem besonders für ihre Spiele bestimmten Rasenplatz umherhetzten und vor lauter Lust und Übermut jauchzten und jubelten!
Das Essen war vorüber; im Garten tummelten sich die Gäste herum, aber auf der Veranda des Hauses stand eine Gruppe in Glück und Seligkeit und schaute auf das Treiben da unten mit lächelnden Blicken, aber doch tränenfeuchten Augen nieder.
Es war Georg Donner, den Vater an der Seite, der den Arm über seine Schulter legte, während er selbst die dicht an ihn geschmiegte Mutter fest und innig umschlungen hielt; und indes die Kinder da unten tollten und jubelten, hatte er die Mutter an sich gepresst und ihre Stirn küssend, flüsterte er ihr zu:
„Oh, wenn Du wüsstest, Mutter, wie glücklich ich jetzt bin!“
„Mein Georg – mein guter Georg“, sagte da der Vater, während sich die Mutter mit tränenüberströmten Antlitz an den Sohn schmiegte. „Gott sei gelobt und gedankt, dass er uns hier wieder zusammen geführt, um uns seiner Gaben und Güte zu freuen. Wenn auch nicht in der alten, liebgewonnenen Heimat, blüht doch hier ein neues Leben für uns auf in den Kindern.“
„Und wir sehen die alte Heimat wieder, Vater“, rief da Georg bewegt. „Noch haben wir Jahre des Schaffens und Wirkens vor uns und unsere Freude daran, denn nur in der Tätigkeit bewährt sich der Mann. Wenn wir aber erst einmal unser Ziel erreicht und einer sorgenfreien Zukunft entgegensehen können, dann kehren wir in die alte, liebe Heimat zurück und zehren in der Erinnerung an der früheren, eben durch ihre Entbehrungen und Sorgen liebgewonnenen Zeit.“
„Und die Kinder?“ sagte die Mutter zweifelnd. „Werden sie Amerika verlassen wollen? Ist es nicht ihnen in der Zeit das geworden, was uns Deutschland geblieben?“
„Sorg’ Dich nicht um das Mutter“, sagte Georg herzlich, „jetzt gehen wir noch frohen, fröhlichen Jahren entgegen, und für die Zukunft wird der liebe Gott sorgen. Uns ist ja doch nur der heutige Tag gegeben und nicht über eine Stunde weiter können wir bestimmen, ja kaum für den – den aber wollen wir genießen und nicht traurige und trübe Bilder im vollen, warmen Sonnenschein heraufbeschwören. Sieh, wie die Kinder sich da unten ihres Lebens freuen – sieh, wie sie lachen und jubeln; und wie wir hier, im reiferen Alter, das Bewusstsein eines erworbenen Besitzes haben, ebenso blüht auch ihnen in dem großen freien Land eine schöne und fröhliche Zukunft auf.“
Unten mit den Kindern, und sie gewissermaßen überwachend, spielte auch Katharina, Pastor Donners jüngstes Töchterchen, jetzt aber zu einer stattlichen Jungfrau herangewachsen und das – wenn man so sagen will; veredelte Bild ihres Bruders Georg; und ein reizenderes Bild hätte man sich nicht denken können, als das junge, wirklich bildschöne, lebensfrische Mädchen, wie es da mütterlich unter den Kindern waltete, die zu wilden einzügelte, die Kleinen vor Unfällen bewahrte und dabei von allen miteinander „Tante“ genannt wurde.
An der Gartenpforte stand eine schlanke, wettergebräunte Gestalt, ein noch jugendlicher Mann von höchstens dreißig bis zweiunddreißig Jahren, einen Panamahut auf und sonst wohl leicht, aber auch sehr elegant gekleidet, selbst mit Glacéhandschuhen, die man hier selten genug zu sehen bekam. Der junge Fremde hatte die Tür wohl geöffnet, aber den Garten noch nicht betreten, denn vor ihm hin tobte und jubelte die muntere Schar, und mit der Jungfrau dazwischen war es ein so entzückender Anblick, dass er sich scheute, die seiner noch gar nicht achtende Gruppe zu stören, und ihr lächelnd eine ganze Weile zuschaute. Da hetzten sich ein paar Knaben bis dicht an ihn heran, so dass der eine fast gegen ihn anrannte, ihn aber kaum erblickte, als er auch scheu davon lief und dadurch den Alarm gab, nach dem sich auch die Übrigen ihm zuwandten.
Katharina blickte erstaunt nach ihm hinüber, der Fremde aber, der nun doch wohl einsah, dass er kein stiller Zeuge der so lebensfrohen Gruppen mehr sein konnte, lüftete artig gegen die junge Dame den Hut und frug, auf sie zutretend, ob er sich hier auf der Farm eines Herrn Georg Donner befinde, mit dem er in früheren Zeiten einmal zusammen – wie er lächelnd hinzusetzte – „eine Reise gemacht habe.“
„Georg Donner ist mein Bruder“, sagte das junge Mädchen errötend, „er steht dort oben auf der Veranda – soll ich ihn rufen?“
Der Fremde warf einen Blick hinauf. „Das ist der Rechte“, nickte er vergnügt mit dem Kopf, „nein, bitte, mein Fräulein, lassen Sie sich nicht stören, ich werde ihn selber aufsuchen und sehen, ob er mich noch kennt.“ Und seinen Hut wieder aufsetzend, damit man von oben aus sein Gesicht nicht erkennen konnte, schritt er direkt dem Hause zu, in dem er gleich darauf verschwand.
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