Friedrich Gerstäcker - Nach Amerika! Bd. 1

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Friedrich Gerstäcker wanderte selbst 1837 nach Nordamerika aus und führte ein abenteuerliches Leben. Sein zweibändiges Werk 'Nach Amerika' schildert auf spannende Weise die Erlebnisse der Pioniere in der Wildnis. Kaum einem anderen Autor der Zeit war es möglich, so viele Reisen zu erleben und auf unterhaltsame Weise zu schildern. Gerstäckers Werke wurden für viele Nachfolger in diesem Genre wichtige Quellen – nicht zuletzt auch für Karl May.

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Friedrich Gerstäcker

Nach Amerika!

Ein Volksbuch. 1. Band

Gesammelte Schriften von Friedrich Gerstäcker

1. Serie, Band 11

Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“ herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Thomas Ostwald und Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck.

Ausgabe letzter Hand, ungekürzt

Gefördert durch die Richard-Borek-Stiftung und Stiftung Braunschweigischer Kuilturbesitz

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar, Braunschweig

Geschäftstelle Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. ©2006/2020

Nach Amerika!

Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den Beschauer dadurch gewissermaßen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, so will auch ich hier den Anfang des einen Kapitels, aus der Mitte des Bandes heraus, zum Vorwort wählen, um den Leser gleich von vorn herein mit dem bekannt zu machen, was ich ihm biete.

«Nach Amerika!» – Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in ‚Tausend und eine Nacht’, wo das kleine Wörtchen «Sesam» dem, der es weiß, die Tore zu ungezählten Schätzen öffnet? Hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, um Geister aus ihrem Grabe hervorzurufen und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? – Mit dem ersten Klang der einfachen Silbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volks erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde zitterte, und das kecke, tollkühne Menschenkind, das sie gesprochen, bebte vor der furchtbaren Gewalt zurück, die es heraufbeschworen.

Die Zeiten sind vorüber, die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen, sie zu rufen – aber ein anderes dafür gefunden, das, kaum minder stark, mit e i n e m Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.

«Nach Amerika!» Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen, seinen Mut stählen sollte. – «Nach Amerika!» flüstert der Verzweifelte, der hier am Rand des Verderbens dem Abgrund langsam, aber sicher entgegengerissen wurde. – «Nach Amerika!» sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein «tägliches Brot» mit blutigem Schweiß gebeten – und es nicht erhalten, der keine Hilfe für sich und die Seinen hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln w i l l , nicht stehlen k a n n. – «Nach Amerika!» lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegenjubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts. – «Nach Amerika!» jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ozean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten gleicht. – «Nach Amerika!» und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen abgeschlossen ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen – liegen die Bande, die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen, die sie für hier gehegt, die Sorgen, die sie gedrückt. – «Nach Amerika!»

So gärt und keimt der Same um uns her – hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain noch so schwer geärgert, und der im Geist, während er an dem Stein wieder und wieder wenden muß, schon weit über dem Meer drüben die langen geraden Furchen zieht – der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen in die Nachbarschaft setzt, um die wenigen Kunden, die ihm bis dahin noch geblieben, in s e i n e Tür zu locken – der Künstler in seinem Atelier oder seiner Studierstube, der über einer freieren Entwicklung brütet und von einem Lande schwärmt, wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden – der Kaufmann hinter seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, anderen Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reichgefüllten Warenhäusern träumt; in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort – ein stiller, aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arznei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht erraten soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding – nach Leuten, die vordem «hinübergezogen» und denen es gut gegangen – nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk – für andere natürlich, nicht für sich etwa – sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund; sie wünschen, daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.

So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den salto mortale getan und alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen w i r im Leben nie geglaubt, daß s i e je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehen.

Und dort? –

Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den verschiedenartigsten Verhältnissen und Sphären, aus allen Schichten der menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen – Gute und Böse, den Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger und den heimlichen Verbrecher, alle dem e i n e n Ziel entgegenstrebend. Und a l l e vereinigt sie das Schiff; der eine kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem schwanken Kiel hinüberträgt, dem fernen Weltteil zu; oh, was für Hoffnungen, was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schoß! Aber die Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, im engen Haus still und gedrängt beisammen, jeder mit dem alten Leben abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem wunderlichen unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in die Tiefe rollt und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schar von Tag- und Nachtfaltern den Weg ins Freie öffnet.

Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu vom Winde fortgeführt; die einen selbstbewußt und keck dem fremden, unbekannten Leben in die Arme springend, die anderen scheu und zaghaft, bei jedem Schritt fast moralische Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; alle aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande die im alten aufgegebene Existenz abzuringen, jeder in seiner Art, auf seine Weise.

Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Bösem, die einen mir ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, andere zerknirscht und zertreten, die Stunde verwünschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar – sehen, wie sich die Wildnis lichtet, wie Farmen und Städte entstehen und sich das deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen Bekanten und Freunden, die wir zu Hause schon oder auf der Fahrt erst lieb gewonnen, oder für die wir uns interessieren, auf ihren verschiedenen, oft wunderlichen Bahnen.

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