Man war gerade beim Nachtisch, als Breitenstein auf die Uhr sah. Es war zehn Minuten nach elf. „Vielen Dank für die Einladung“, sagte er, putzte sich den Mund mit der Serviette ab, weißes Leinen mit einem goldenen “T“, erhob sich, gab dem Bürgermeister die Hand, sagte „Es war schön bei euch“, was gelogen war, denn er hatte sich gelangweilt, stieg in seinen Dienstwagen, einen schwarzen BMW, Dienstwagen, und fuhr nach München zurück. Er fuhr selbst, denn der Fahrer hatte Urlaub.
Er war froh, die Veranstaltung hinter sich gebracht zu haben. Lieber wäre er in München geblieben, hätte sich auf seine Reise nach Berlin vorbereitet, wo er die Landesvertretung und die drei Minister in der Regierung auf den Kurs bringen sollte, den sein Chef, der bayerischen Ministerpräsident Eder, vorgegeben hatte. Einige der Damen und Herren, deren Aufgabe es war, ihre Stimme für Bayern zu erheben, und zwar unüberhörbar und Bayerns Eigenständigkeit zu demonstrieren, und zwar unübersehbar, waren augenscheinlich von dem Berliner Bazillus befallen worden, wie Eder sagte, kamen den Positionen der Regierungskoalition gefährlich nahe und hielten das Banner Bayerns inzwischen so niedrig, dass es kaum noch neben dem der schwesterlichen Regierungspartei und der unverschämt großen Fahne des Koalitionspartners zu erkennen war. Selbst die drei bayerischen Minister brauchten dringend eine Impfung, die sie gegen den Bazillus immunisierte. Aber Eder hatte Breitenstein gezwungen, nach Loisach zu fahren, hinaus aufs Land, „wo unsere Wurzeln sind“. Das stimmte nur für ihn selbst und einige wenige aus der Parteispitze. Die meisten kamen aus den Städten, wie Breitenstein aus München, aus Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ingolstadt, Landshut, Deggendorf, Fürth, Rosenheim, Bayreuth, Bamberg, Regensburg oder Passau. Eder stammte aus Niederbayern, einem kleinen Ort, war der Sohn eines Landwirts und zufällig in die Politik geraten, wie er selbst sagte, vom Bauernverband zum Dorfbürgermeister, vom Landrat zum Abgeordneten, vom Fraktionsvorsitzenden zum Ministerpräsidenten.
Breitenstein hatte einen anderen Weg genommen. Schon früh hatte er den Entschluss gefasst, in die Politik zu gehen, in der Öffentlichkeit zu stehen, bekannt zu sein, Einfluss zu haben und Macht. Schon als Kind hatte er davon geträumt, dass die Menschen ihm zujubelten auf dem Marienplatz - er stand auf dem Rathausbalkon, wie die Fußballer vom F.C. Bayern, die wieder einmal Meister geworden waren und winkte den Massen zu, wurde von den bedeutendsten Männern der Welt begrüßt und handelte mit ihnen Verträge aus, zum Wohle Bayerns, machte im Parlament seine Gegner fertig und wurde im Fernsehen interviewt. Das Gefühl, das sich bei diesen Fantasien einstellte, dieses Kribbeln und diesen Wonneschauer wollte er später auch in der Wirklichkeit erleben, das Gefühl, etwas Besonders zu sein, über den anderen zu stehen.
Nach dem Abitur hatte er gegen den Willen seines Vaters, Gynäkologe, Universitätsprofessor und Chefarzt einer Münchner Klinik, der aus ihm ebenfalls einen Arzt machen wollte, Politik und Wirtschaft studiert, in München, London und Boston, hatte sofort eine Stelle im bayerischen Wirtschaftsministerium bekommen, auf Vermittlung seines Vaters, eines Rotariers. Dank seiner Fähigkeit, immer und überall auf sich aufmerksam zu machen, war er schon nach drei Jahren Ressortleiter, der jüngste überhaupt, und nach weiteren drei Jahren machte Eder ihn zu seinem Generalsekretär.
Nach dem Studium hatte Breitenstein überlegt, Schauspieler zu werden, denn Schauspieler waren noch bekannter als Politiker und öfter im Fernsehen zu sehen, die Stars jedenfalls. Er hatte sich heimlich bei einer Agentur beworben. Das wusste niemand, nicht einmal seine Mutter, eine stille, bescheidene Frau, die sich stets im Hintergrund hielt und ihr einziges Kind wie eine Kostbarkeit behandelte. Er hatte eine Szene aus „Don Carlos“ einstudiert. Bei seinem Vortrag hatte er bemerkt, dass sich die beiden Frauen, die ihn zu beurteilen hatten langweilten und miteinander flüsterten. Daraufhin hatte er beschlossen, die Schauspielerei aufzugeben. Er würde in diesem Beruf nur mittelmäßig sein können, und das hasste er. Mittelmaß war für ihn wie Fleckfieber oder Ausschlag, hässlich und unansehnlich, Millionen waren davon befallen, eine riesige Menge, die zu einem eigenschaftslosen Brei verschmolz. Da blieb er lieber bei seinem Entschluss, in die Politik zu gehen. Schauspieler und Politiker hatten schließlich etwas gemeinsam, beide spielten Rollen. Im Augenblick spielte Max Breitenstein die Rolle des jungen, aufstrebenden, dynamischen, eleganten und gebildeten Hoffnungsträgers der Partei, dem die Zukunft gehörte. Er war siebenunddreißig, verheiratet, hatte zwei Kinder, ein Haus in Solln mit einem großen Garten und peilte den nächsten Karrieresprung an, ein Ministerposten, mindestens.
„Wann sagst du es endlich deinen Eltern?“ fragte Charlotte. Drei Wochen waren inzwischen vergangen seit dem zehnten Hochzeitstag. „Was ist mit deinen?“ fragte Ludwig zurück. „Die wissen es seit einer Woche“, antwortete Charlotte. „Ich habe es Ihnen auf die Mailbox gesprochen“. „Und?“ fragte Ludwig. „Nichts“, antwortete Charlotte. „Siehst du“, sagte Ludwig. „Was soll ich sehen?“, fragte Charlotte.
Ludwig antwortete nicht. Charlottes Eltern schien es egal zu sein, dass sie Großeltern würden, zum ersten mal, denn Charlotte war ihre einzige Tochter. Vielleicht waren sie sogar verärgert, dass sie zu Oma und Opa gemacht werden sollten, denn sie weigerten sich, als alt zu gelten, obwohl sie beide um die siebzig waren. Es gab keine Faltencreme, die Charlottes Mutter nicht schon ausprobiert hätte, und ihr Vater war stolz darauf, dass er noch manchen jungen Kerl, wie er sagte, im Tennis besiegte. Ludwig hatte Angst davor, dass seine Eltern ähnlich reagieren würden, wenn auch aus anderen Gründen, dass sie es bestenfalls zur Kenntnis nehmen und danach von etwas anderem reden würden, Dorfklatsch oder den Futtermittelpreisen. Er wollte sich die Enttäuschung ersparen, wusste jedoch, dass das nicht möglich war und zögerte es, so lang es ging, hinaus.
Dennoch stieg er an einem Tag in den Sommerferien in sein Auto und fuhr nach Reitham. Es war, genauer gesagt, Charlottes Auto, denn sie hatte es gekauft, noch vor der Hochzeit, vor elf Jahren, ein Golf, nicht ganz rostfrei inzwischen, zerschlissene Sitze, aber immer noch dem TÜV trotzend und zuverlässig, auch wenn man das Geräusch, das der Motor machte, mit dem eines Traktors verwechseln könnte und die Stoßdämpfer diesen Namen schon lange nicht mehr verdienten. Sie würden das Auto fahren, bis es auseinander fiel. Lieber sparten sie das Geld für eine eigene Wohnung.
Es war eine halbe Stunde Fahrt, mehr nicht, vorbei an grasenden Kühen, an Höfen mit Solaranlagen auf den Dächern und Misthaufen vor den Ställen, vorbei an einem kleinen See, an dessen Ufer früher Schilf wuchs und Angler saßen, wo jetzt jedoch Menschen herumlagen, zur Sonne gewandt, wo es einen Kiosk gab und einen Steg, der in den See hinausführte, auf dem ebenfalls Menschen lagen, ebenfalls zur Sonne gewandt, regungslos und wo einige wenige das Wasser durchpflügten oder am Ufer planschten, Kinder meistens, schreiend, kreischend, vergnügt.
Am Ortsschild „Reitham“ fuhr Ludwig langsamer. Auf der Hauptstraße sah er sich um, vielleicht sah er jemand, den er von früher kannte. Immerhin hatte er bis zu seinem Abitur hier gelebt, wenn auch die letzten neun Jahre tagsüber nur am Wochenende und das auch nur manchmal. Er fuhr mit dem Bus um siebenuhrfünf und war um achtzehnuhrdreißig zurück. Auch samstags trieb er sich lieber in der Stadt herum, als seinem Vater im Stall oder auf dem Feld zu helfen, was anfangs Prügel und später Streit und noch später demonstrative Verachtung nach sich gezogen hatte. Die Hauptstraße war leer, bis auf eine Frau auf einem Fahrrad, die er nicht kannte.
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