Ehe ich meinem ersten Impuls gefolgt bin und den Keil herausgezogen habe, zieht ein ekelhaftes Röhren von oberhalb meine Aufmerksamkeit auf sich, weshalb ich die offene Haustüre offene Haustüre sein lasse und direkt die Treppe in Angriff nehme. Dabei kitzelt kühle Durchzugluft um meine Waden, was nahelegt, dass auch die Wohnungstür im ersten Stock offensteht. Ich merke, dass ich mich mit jedem Schritt noch weiter in meine Wut hineinsteigere, was wiederum meine Tränendrüsen weiter anregt.
Ein fauchendes ´Herr Faber` auf der Zunge, stürme ich in die Wohnung, komme jedoch nicht weiter als bis zwischen Tür und Angel, weil ich dort mit jemandem zusammenpralle, der eindeutig nicht mein Vermieter ist.
Dafür ist er zu groß, das Haar zu kräftig, ohne den Anflug von Grau oder Tendenz zur Glatze. Lässige Blue Jeans und ein weißes, leicht angestaubtes T-Shirt lassen sich ebenfalls nicht mit meinem Vermieter auf einen Nenner bringen, erst recht nicht, da sich hinter dem Shirt eine muskulöse Brust verbirgt. Ergänzend zu all dem geht ein süßlicher Geruch von ihm aus – aber nicht der, den ältere Menschen, mein Vermieter eingeschlossen, verströmen. Vielmehr wie Gummibärchen. Das ist zumindest die erste Assoziation, die sich in meinem Kopf herauskristallisiert.
Durch den Zusammenstoß stolpert jeder von uns ein Stück nach hinten. Ich drücke meine Hand reflexartig gegen die Stirn, während mein Gegenüber nach seiner Nase greift, da mein Dickschädel ihn genau dort getroffen hat.
Ich bin viel zu perplex, als dass ich eine angemessene Reaktion zeigen oder etwas sagen könnte, und sei es nur das Wörtchen Entschuldigung. Von jetzt auf gleich ist mir jeglicher Wind – der, wenn man es genau nimmt, ohnehin nicht mehr als eine müde Brise war, die dachte, sie sei zu Größerem fähig – aus den Segeln genommen. Stattdessen verspüre ich plötzlich Verlegenheit.
„Das nenne ich mal umwerfend, im wahrsten Sinne des Wortes.“ Die braunen Augen meines braunhaarigen Gegenübers gleiten langsam hinab zu meinen Füßen und wieder hinauf zu meinem Gesicht, während er sich den Nasenrücken massiert und mich schief angrinst. „Wo brennt´s denn?“
In meinem Gesicht – das ist mein erster Gedanke. Ich spüre deutlich, wie mir die Hitze in die Wangen schießt. Am liebsten würde ich mich einfach umdrehen und ihn stehen lassen, doch mir ist klar, dass das nicht geht. Weil dies eine jener Situationen ist, die man aussitzen muss, um sie nicht noch peinlicher zu machen als sie ohnehin schon ist.
„Kann ich irgendwie helfen?“, versucht mir mein Gegenüber abermals eine Antwort zu entlocken, da ich mich immer noch stumm wie ein Fisch gebe.
„Für Hilfe ist es wohl schon zu spät.“
Ein kehliges Lachen schlägt mir entgegen. „Eigentlich sehen Sie auch gar nicht aus, als hätten Sie Hilfe nötig. Vielmehr, als kämen Sie geradewegs aus dem Bett – nicht unbedingt freiwillig. Das wiederum kann durchaus ein Grund sein, warum Sie zu mir wollten.“ Seine braunen Augen funkeln spitzbübisch.
Ich reiße den Mund auf. Wegen dem, was er gesagt oder vielmehr wie er es gesagt hat und weil ich meinen Gedanken allem Anschein nach nicht für mich behalten, sondern laut ausgesprochen habe.
„Womöglich wollten Sie mich als Erste willkommen heißen?“, schlägt mein Gegenüber voller Gelassenheit (der Gelassenheit, die ich gerne verspüren würde) vor und streckt den rechten Arm nach oben, um sich am Türrahmen abzustützen. „Oder, wer weiß, vielleicht machen Sie das auch öfter – morgens im Bademantel die Wohnungen Ihrer Nachbarn aufsuchen, meine ich.“ In seinem rechten Mundwinkel zuckt es verdächtig.
Mein Verstand, jüngst ziemlich auf Sparflamme heruntergedimmt, katapultiert sich beeindruckend schnell in die Leistungszone zurück. Und zwar, indem er mich darüber informiert, dass ich wenig geschlafen habe, entsprechend aussehe und einem fremden, etwa gleichaltrigen Mann gegenüberstehe. Und dass in meinem knielangen, rosaroten Hello Kitty Bademantel. Ein Geschenk zum dreiundzwanzigsten Geburtstag, das ich auch nach fünf Jahren noch problemlos tragen kann, weil Bademäntel im Normalfall nicht zu klein und Katzen mit Schleifchen im Haar nicht weniger süß werden.
Allerdings fände ich ein reiferes, gern vollkommen schlicht gehaltenes Modell, in diesem Moment überaus angenehm.
„Tut mir leid, ich wollte nicht …“, stammle ich vor mich hin und deute auf sein Gesicht, während ich mich frage, warum zur Hölle ich hier stehe und nicht mehr in meinem Bett liege.
„Halb so wild, meine Nase ist ja noch ganz“, versichert mir der Dunkelhaarige mit einem lockeren Lächeln.
Mir wünschend, ich hätte mich doch für Jeans und T-Shirt entschieden, versuche ich mich an einem vollständigen Satz. „Es tut mir wirklich leid, ich dachte Herr Faber, also mein Vermieter, ist drauf und dran diverse Schönheitsreparaturen an der Wohnung vorzunehmen. Da es meinem Empfinden nach sehr früh dafür ist, wollte ich …“
„Ihm die Leviten lesen?“, hilft mir mein Gegenüber aus.
Sofern möglich, glüht mein Gesicht noch heißer.
„Ich fürchte, wenn Sie jemanden zur Schnecke machen wollen, müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Ich bin derjenige, der Sie aus dem Bett geworfen hat – was mir übrigens leidtut.“ Auf seinen Lippen liegt immer noch ein lockeres Lächeln, seine Stimme klingt nun aber entschuldigend. „Ich dachte, alle Bewohner wären informiert, dass ich heute einziehe und es deswegen etwas lauter wird. Herr Faber wollte ein Infoschreiben verteilen oder ans schwarze Brett pinnen, eins von beidem. Aber offensichtlich“, er hält kurz inne, „hat er weder das eine, noch das andere getan.“
O-k-a-y , fliegen mir die Buchstaben langgezogen wie Hasenohren durch den Kopf, obwohl die Vorahnung schon irgendwo im Hintergrund zu greifen gewesen ist. Das ist also nicht etwa ein von Herr Faber engagierter Handwerker, Verwandter oder Einbrecher, das ist mein neuer Nachbar.
„Wie es aussieht, hat er diese Info nicht so konsequent weitergegeben.“ Ich würde mich daran erinnern, wenn ich ein Schreiben von Herrn Faber im Briefkasten gehabt hätte. Ans schwarze Brett habe ich allerdings schon länger nicht mehr gesehen.
Ich konzentriere mich auf das regelmäßige Ein- und Ausatmen, weil ich, wenn schon nicht über diese Situation, zumindest darüber die Kontrolle habe.
„Ungünstig gelaufen, würde ich sagen. Ich bin übrigens Alexander Koller.“ Er hebt den Arm und streckt mir die rechte Hand entgegen, die er zuvor an seiner Jeans abgestrichen hat. „Wenn ich Sie schon unsanft aus dem Bett werfe, sollte ich mich wenigstens vorstellen. Immerhin will ich nicht gänzlich den Eindruck eines Unruhestörers hinterlassen.“
Da ich seine guten Manieren schlecht übergehen kann, erwidere ich den Handschlag und sage so selbstbewusst und würdevoll mir möglich: „Hannah Schönbeck.“
Alexander Kollers Hand ist größer als meine, warm, an einigen Stellen leicht rau und umschließt meine Finger mit sanftem aber zugleich prägnantem Druck.
Als er mich nach angemessener Zeit immer noch nicht losgelassen hat, ziehe ich meine Hand zurück. Nicht übermäßig auffällig, aber dennoch so, dass er merkt, dass ich sie zurückhaben möchte.
„Es ist einfach etwas früh, besonders an einem Samstag. Ich habe gestern ziemlich lange“, ich stocke kurz, „ähm … gearbeitet und bin erst spät ins Bett gekommen. Deshalb hat mich der Lärm derart auf dem falschen Fuß erwischt.“ Nicht nur der hat mich auf dem falschen Fuß erwischt. Wieso verdammt noch mal bin ich nicht im Bett geblieben?
„Ich hoffe, das nehmen Sie mir nicht übel? Es wäre schade, wenn ich es mir schon am ersten Tag verscherzt hätte“, setzt mein neuer Nachbar mit schiefem Grinsen nach. „Bei Ihrem nächsten Besuch kann ich Ihnen bestimmt eine Tasse Kaffee und nicht nur eine staubige Hand anbieten.“
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