1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Dagegen seien Erscheinungen wie Alkoholismus, Prostitution oder Kleinkriminalität mit der Stabilisierung der Belegschaften{220} durch die Entfernung undisziplinierter Arbeitnehmer, dem Bau von Wohnungen, Läden etc. und mit der Stabilisierung neuer Verhaltensmuster der sich formenden neuen Gruppen zurückgegangen.
Nach den bisherigen Erfahrungen dauerten die zweite und dritte Phase der Industrialisierung etwa 6-7 Jahre. Das sei kurz, doch gemessen am Lebensrhythmus eines Individuums lang genug, um sich psychisch und physisch auf die gesellschaftlichen Veränderungen einstellen zu können. Für die Jugend gelte zwar im Prinzip ebenfalls, dass 7 Jahre genug seien, „um in ihnen die grundlegenden formativen Prozesse zu vollziehen,“{221} doch die Untersuchungen zeigten eindeutig, dass die Jugendlichen von diesem Veränderungsprozess am empfindlichsten betroffen sind.{222} So wurden die meisten Straftaten, wie Krawalle infolge übermässigen Alkoholkonsums etc., z. B. beim Aufbau von „Nova Huta“ bei Krakau oder dem der Automobilfabrik „Żerań“ in Warschau, von Jugendlichen durchgeführt. Der Grad der Kriminalität entsprach dabei weitgehend dem niedrigen Stand der Industrialisierung, in dem das Land sich damals befand:
„Damals hatten wir (…) gesamtgesellschaftlich Bedingungen, die eine vernünftige Führung und Beherrschung aller Erscheinungen, die eine Industrialisierung mit sich bringt, erschweren, und daher gab es auch einen erheblich höheren Grad an Desorganisation. Daher war auch in den Rayons, in denen die dritte Etappe der Industrialisierung 1954-56 stattfand, die Quote an Verbrechen, Krawallen und moralischer Zerrüttung weit höher als in solchen Rayons, die diese Etappe erst 1964-66 erreichten.“{223}
Andererseits lassen sich diese Erfahrungen auch nicht beliebig verallgemeinern. Wie z. B. eine Studie über die „organische Industrialisierung Posens“ aufzeigt, hängt sehr viel davon ab, ob die neuen Belegschaften bereits Erfahrungen oder gar eine lange Tradition als Industriearbeiter haben.{224} In jedem Fall seien Formen der Desorganisation beim Zusammenprall zweier grundverschiedener Kulturen während und im Zuge der Industrialisierung unvermeidlich.
„Man kann die Schärfe dieser Konflikte dämpfen, Protest und Unzufriedenheit umlenken – dennoch können sie bisweilen sehr scharfe Formen annehmen“{225} Litten insbesondere die Jugendlichen in der ersten und zweiten Phase des Aufbaus grosser Industriekomplexe am stärksten, so fände die nachfolgende Jugend in der dritten Phase stabilere Lebensbedingungen vor und entsprechend sinke die Zahl der Straftaten Jugendlicher. Zudem verändere sich die Jugend in ihrer Struktur, denn besonders in der zweiten Etappe, der Bauphase, konzentrierten sich unqualifizierte Arbeitskräfte mit niedrigem Bildungsniveau, die sich häufig aus der Gruppe geistig zurückgebliebener Jugendlicher rekrutierten. „Dieser Typ des Arbeitnehmers ist auch in hohem Masse für Trunksucht und Schlägereien anfällig.“{226}
5.2.1.3 Schaffung und Stabilisierung neuer sozialer Formen (Vierte Etappe)
Die vierte Etappe, in welcher ein neues Gleichgewicht geschaffen werde und die soziale Lage der Bevölkerung sich stabilisiere, könne, so Szczepan´ski, nur skizziert werden, da noch kein Rayon, in welchem in den 50-er oder 60-er Jahren die Industrialisierung einsetzte, wie z.B. die Rayons Konin´, Nowa Huta und Milejowa, diese Etappe voll erreicht habe und alte Industriegebiete wie Łódź, Oberschlesien und das Zagłębie Dąbrowskie, das Dombrowa Kohlerevier in Oberschlesien, könnten wegen ihrer unterschiedlichen Traditionen und Entwicklung nicht als typisch angesehen werden.{227}
Allgemein könne gesagt werden, dass sich in einem solchen Zeitraum durch den Rhythmus der Fabrikarbeit, die neuen Institutionen, dem regelmässigen und gesicherten Lohnerwerb etc. ein Gefühl der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit herausbilde, welches den Lebensrhythmus nicht nur der in der Industrie Beschäftigten, sondern auch derer, die damit rechnen, dass sie jederzeit in der Industrie beschäftigt werden können, entscheidend verändere.{228}
Wie sind nun die Auswirkungen auf die Belegschaften?
Generell sinkt die Fluktuation und der Anteil der beschäftigten Frauen;{229} der Anteil der Unverheirateten nimmt ab, während das Durchschnittsalter gleichzeitig zunimmt,{230} und es steigt das Bildungsniveau sowohl bei den Arbeitern als auch bei den Angestellten.{231} Insgesamt jedoch bleibt die Fluktuation noch hoch. Absencja, Verspätungen, schlechte Arbeitsmoral (bumelanctwo), Materialvergeudung etc. zeugten weiterhin von der Unruhe unter der Belegschaft. Das Studium der Arbeiterklasse habe für die sozialistischen Länder vorrangige Bedeutung und alle Untersuchungen seien auf die Erwartungen und Hoffnungen orientiert gewesen, dass die Arbeiter – in der Mehrheit – eine bestimmte politische und ideologische Haltung einnähmen, die ihren Interessen als Klasse entspräche.{232} Doch der Typ des Arbeiters, wie die Klassiker des Marxismus ihn beschrieben, habe sich unter den hier gegebenen Bedingungen nicht ergeben. Stattdessen entstand die Kategorie des „chłop-robotnik“, des „Bauern-Arbeiters“, „dessen Denken, Ansichten und Überzeugungen in der Tat allmählich durch den Einfluss der Maschinenarbeit und der rationalen Arbeitsorganisation geformt wurden; doch ist dies nicht gleichbedeutend mit der Bildung ideologischer und politischer Grundsätze.“{233} Nicht der Klassenkampf präge diesen Arbeitertypus, sondern seine Arbeits- und Familiensituation, seine Position in der kommunalen Gesellschaft und die Art der Beschäftigung, der er vorher nachgegangen sei. Die Untersuchungen hätten zwar gezeigt, dass Konflikte im Betrieb sich aus den Arbeitsbedingungen ergaben und objektiven Charakter hätten – wobei auch häufig Konflikte unter den Arbeitern selbst entstünden -, doch das gesellschaftliche Bewusstsein der Arbeitnehmer bilde sich formal ähnlich heraus, wie in den kapitalistischen Gesellschaften: „(…) ihr Gegenspieler wird für sie immer die administrative und technische Leitung der Fabrik sein.“{234}
Allerdings seien für die Bildung des Bewusstseins der neuen Arbeiter auch verschiedene Formen politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten verantwortlich,{235} wie Kontrollmöglichkeiten, praktische Solidarität, kollegiale Selbsthilfe, Organisierung von gesellschaftlichen Veranstaltungen, Parteiarbeit etc. Mit der Teilnahme an solchen Aktivitäten bildeten sich Wertvorstellungen und Denkstrukturen heraus, die von der traditionellen Mentalität der Arbeiter in Privatunternehmen weit entfernt seien. Wie sich das Bewusstsein der Arbeiter weiterentwickle, sei in hohem Masse von der Gruppe der Leitenden sowohl im politisch-administrativen als auch im ökonomisch-technischen Bereich abhängig.{236}
Dies gelte auch für den Lebensstil und das Verhalten der Familien und Angehörigen der Führungsgruppen. Denn obwohl es vor allem die bäuerlichen Familien seien, deren Strukturen sich änderten, sei es die neue Intelligentsia, welche die traditionelle Elite auf dem Dorfe ersetze und als neues Vorbild gelte. Höhe des Einkommens, Qualität der Wohnung, Besitz eines PKWs und die Möglichkeit zu häufigen Fahrten in die grossen Städte oder in das Ausland spielten dabei eine entscheidende Rolle. Und im Gegensatz zur traditionellen polnischen Intelligentsia, „die mehr oder weniger bewusst glaubte, für das Volk arbeiten zu müssen“{237}, zieht die neue Intelligentsia sich weitmöglichst von gesellschaftlichen Aktivitäten und Verpflichtungen zurück und privatisiert sich.{238} Die Orientierung auf mehr Konsummöglichkeiten führt dazu, dass sich viele ein zweites Einkommen suchen, welches ihnen zusätzlich 2-3 Tsd. zł. pro Monat verschafft.{239}
Im Weiteren kritisiert Szczepan´ski u. a. das Organisationsprinzip, insbesondere das Lohnsystem der 60-er Jahre, welches zu wenig Anreize für individuelle Leistung biete und sich zudem ungünstig auf den landwirtschaftlichen Sektor auswirke. Solle das Chaos in den industriellen Rayons nicht vergrössert werden, müsse die Landwirtschaftspolitik unbedingt geändert werden.{240}
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