Trotz falscher Wirtschaftspolitik, insbesondere eines die persönliche Leistung hemmenden Lohn- und Prämiensystems, habe sich die Hebung der Qualifikation durchgesetzt, einfach, weil sie notwendig gewesen sei. Der Dezember 1970 habe dies auch jenen bewusst gemacht, die meinten, die tatsächliche Entwicklung stimme mit ihren ideologischen Vorstellungen überein. Die Arbeiterklasse „… war bereit zu einem grossen Sprung nach vorn, um ihre Möglichkeiten voll zu nutzen und weiterzuentwickeln. Doch sie wartete vergeblich auf ein Programm und organisierte Formen, die ihr dies gestatteten. Ihre unmittelbare Intervention 1970 ermöglichte das Erste und das Zweite.“{283}
Damit aber habe sich auch die Situation der Intelligentsia radikal verändert. Während ihre Tätigkeit vorher durch zahlreiche Vorschriften behindert und eingeschränkt worden sei, habe sie jetzt gemeinsam mit der Arbeiterklasse Staat und Wirtschaft modernisieren können.{284}
Grundsätzlich hebt Szczepan´ski abschliessend noch einmal den wesentlichen Unterschied zwischen den Folgen der sozialistischen Industrialisierung und „der technischen Zivilisation in kapitalistischen und postkapitalistischen Ländern“ hervor.{285} So könnten die negativen Auswirkungen der Kommerzialisierung, der Prozesse, die zur ‚Vereinsamung der Masse‘ Riesmans oder zum ‚organisierten Menschen‘ W. H. Whytes führten,{286} durch das System verhindert oder zumindest abgeschwächt werden. Wohnungs- und Siedlungskomitees, ausserökonomische Funktionen der vergesellschafteten Betriebe, Fürsorge für die Alten etc. förderten die Integration der menschlichen Gemeinschaften und verminderten den deformierenden Einfluss von Technik und Ökonomie. Trotz aller negativen Erscheinungen entstünde in Polen eine technische Zivilisation, die eine humanistische Zivilisation werde und die Persönlichkeitsentfaltung des Individuums eher ermögliche, als jedes andere historische System.
5.3 Zur Problematik der sich herausbildenden „gesellschaftlichen Differenzierungen“ (Zróżnicowanie społeczne)
Es ist sicherlich richtig, wenn Szczepan´ski – ähnlich wie viele andere polnische Sozialwissenschaftler und Publizisten – hervorhebt, dass die Idee der Gleichheit und das Recht des Einzelnen bei den Polen tief verwurzelt ist und jeder es als eine natürliche Sache betrachtet, dass er das Recht auf Arbeit, Einkommen, Bildung, freie ärztliche Versorgung etc. hat und dass „das Geschimpfe“ auf bürokratische Auswüchse nur deshalb so laut sei, weil der Staatsbürger sich seiner unverbrüchlichen Rechte bewusst ist.{287} Doch eben weil dieses Rechtsbewusstsein und die Idee der Gleichheit so tief verwurzelt sind, werden auch die neu sich herausbildenden ‚gesellschaftlichen Differenzierungen‘ nicht immer widerspruchslos akzeptiert.
Als Standardwerk zum Themenkomplex „Klassen, Schichten und Macht“ (in den sozialistischen Staaten) gilt in Polen die mittlerweile in dritter Auflage (1976) erschienene theoretische Arbeit des Warschauer Soziologen Włodzimierz Wesołowski „Klasy, warstwy i władza“ (Warszawa 1966ff.{288}). Wesołowski kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass in der sozialistischen Gesellschaft die Klassen im Marx’schen Sinne verschwinden, doch soziale Schichten bestehen bleiben. Denn: „although all people are in the same relation to the means of production, there is a differentiation of incomes, the nature of jobs, the way of life, and social prestige.”{289}
Findet sich bei Wesołowski zur Frage der Einkommensverteilung nur eine einzige Tabelle{290}, deren Aussagewert, wie Tellenback zu Recht moniert{291}, unbefriedigend ist, da lediglich eine Unterscheidung in Hand- und Kopfarbeiter vorgenommen wurde, so wurde in neueren Arbeiten – und übrigens auch in Polemiken in der Presse – exakter auf die Frage der Einkommensunterschiede eingegangen. So zeigte die Auswertung durch K. M. Słomczyn´ski und K. Szafnicki einer 1967 in Łódź durchgeführten Repräsentativbefragung von 1‘000 Familienoberhäuptern{292}, dass von den Befragten, die zur Gruppe der Intelligentsia gehörten, alle, also 100% über 2‘500.- zł. verdienten, von den qualifizierten Arbeitern waren es dagegen nur 24% und von den ungelernten Arbeitern lediglich 4.4%.{293} Das niedrigste Einkommen, nämlich das des ungelernten Arbeiters, gleich 100 gesetzt, erhalten die Autoren folgende tabellarische Zusammenstellung:
Tabelle 2: Einkommen 1967 nach gesellschaftlich-beruflicher Kategorie,
(ungelernter Arbeiter = 100%){294}
Wesołowski weist in seiner o. zitierten Arbeit darauf hin, dass das soziale Ansehen des Facharbeiters in Polen enorm gestiegen ist und der Facharbeiter in der sozialen Wertehierarchie noch vor dem selbständigen Unternehmer, der ‚Privatinitiative‘ (‚prywatna inicjatywa‘) stehe.{295} Am meisten verdient wird allerdings mit Abstand in der Gruppe der ‚Privatinitiative‘, wie die 1969 wiederum in Łódź durchgeführte Untersuchung von J. Koralewicz-Zębik bestätigt.{296} Danach verdienten die privaten Handwerker mehr als das Fünffache wie Arbeiter in vergesellschafteten Betrieben und das 2.76-fache wie die Ingenieure. Letztere wiederum verdienten im Durchschnitt doppelt so viel wie die Arbeiter.{297} 41% aller Handwerker, die Angaben machten, verdienten über 8‘000 zł., was auch für immerhin noch 11% der Ingenieure zutraf. Das höchste Einkommen bei den Arbeitern lag zwischen 5‘001-6‘000 zł., was 2% der Befragten dieser Gruppe erreichten. 66% der Arbeiter verdienten bis zu 3‘500 zł., doch nur 10.5% der Ingenieure verdienten mehr, bei den Handwerkern dagegen waren es 89.5%.{298}
Für den vergesellschafteten Bereich stellten Słomczyn´ski und Szafnicki fest, dass die Ausbildung in hohem Masse Beruf und Position – und in der Folge auch die Höhe des Einkommens, der Prämien und sonstiger Vergütungen beeinflusst.{299} Doch sind alle aufgeführten Beispiele aus der Zeit von vor den Dezemberunruhen 1970; und seitdem hat sich die materielle Lage der Arbeiter erheblich verbessert, wenngleich Lohn- und Einkommensdifferenzen geblieben sind. 1965 lag das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen der Arbeiter (alle folgenden Zahlen gelten nur für den vergesellschafteten Bereich) mit 1‘643 zł. noch unter dem der Verwaltungs- und Büroangestellten mit 1‘727 zł. und erheblich unter dem der Ingenieure und technischen Angestellten, die im Durchschnitt 2‘575 zł. verdienten. 1974 dagegen lag der entsprechende Nettolohn bei den Arbeitern bei 3‘172 zł., bei den Verwaltungs- und Büroangestellten bei 3‘086 zł. und den Ingenieuren und Technikern bei 4‘482 zł.
Auch nach Branchen, Betriebsgrössen und Regionen differiert das Einkommen erheblich. 1974 betrug der durchschnittliche monatliche Nettolohn der Arbeiter im Kohlebergbau 5‘452 zł., der Ingenieure und Techniker 7‘592 zł. und der Verwaltungs- und Büroangestellten 3‘943 z ł. In der Textilindustrie, wo vor allem Frauen beschäftigt sind, verdienten die entsprechenden Kategorien in der Produktion nicht einmal die Hälfte: Arbeiter (und Arbeiterinnen) – 2‘359 zł., Ingenieure, Techniker – 3‘632 zł. Büroangestellte dagegen verdienten immerhin 2‘941 zł.{300} Vermuten lässt sich hieraus, dass bei den Büroangestellten der Anteil der männlichen Beschäftigten höher ist als im Produktionsbereich. Ersichtlich ist aus diesen Zahlen zugleich, dass Arbeiter in der Schwerindustrie – gleiches gilt für die Chemie- und Bauindustrie – erheblich mehr verdienen, als Akademiker in den meisten anderen Bereichen.
Nach eigenen Erkundungen{301} verdienen bspw. Fliessbandarbeiter in Warschau oder Posen in den grossen Industriebetrieben 6-8 Tsd. zł. pro Monat (erste Hälfte 1976). Und im Raum Danzig, der ‚Dreistadt‘ (Trójmiasto) Gdańsk-Sopot-Gdynia, in Ober- und Niederschlesien, also in der Werft- und Hüttenindustrie sowie im Bergbau, sollen die qualifizierten Facharbeiter auf 10-16 Tsd. zł. kommen. So phantastisch diese Zahlen angesichts des durchschnittlichen Nettoeinkommens von ca. 3‘500 zł. 1975 aussehen, unwahrscheinlich sind sie nicht. Die Zahl der freien Arbeitsplätze liegt in Polen erheblich über dem Angebot an verfügbaren qualifizierten Arbeitskräften,{302} und die Betriebe verfügen offensichtlich über verschiedene Möglichkeiten, neben Lohn und Prämien, noch anderweitig gebuchte Gelder zu zahlen, um notwendige Arbeitskräfte anzuwerben.{303}
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