Frauen verdienen insgesamt weniger als ihre männlichen Kollegen. So lag das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen von 57% der weiblichen Beschäftigten im Okt. 1973 zwischen 1‘401 bis 2‘500 zł.; jedoch nur 22% der männlichen Beschäftigten fielen in diese Kategorie. 46.4% der Männer verdienten über 3‘000 zł. netto, bei den Frauen waren es lediglich 15.5%.{304} Zwar sind Bildungs- und Aufstiegschancen, um mit den Worten Szczepańskis zu reden, bei weitem besser als in jedem anderen historisch bekannten System, und die Zahlen zeigen eine Tendenz zu einer Angleichung von gesellschaftlicher Position, Einkommen und beruflicher Stellung,{305} doch die bisherige gesellschaftliche Situation, insbesondere der Arbeiterinnen, die einen erheblichen Prozentsatz der Arbeiterklasse ausmachen – 1968 waren 32.9% aller Industriearbeiter Frauen{306} -, muss sich, wie die Soziologin Stefania Dzięcielska-Machnikowska bemerkt, auf das gesellschaftliche Bewusstsein der Frauen ungünstig auswirken. „Die Frauen fühlen sich benachteiligt. Oft haben sie das Gefühl der Diskriminierung im Hinblick auf Stellung, Einkommen und Wertschätzung (…). In dieser Situation könnten bei sehr vielen Frauen, und insbesondere bei Arbeiterinnen, viele negative Eigenschaften entstehen, die ihre grundsätzlichen politischen und ideologischen Ansichten formen und den Wandlungsprozess der Arbeiterklasse aus einer ‚Klasse an sich‘ in eine ‚Klasse für sich‘ verzögern.“{307}
Untersuchungen verschiedener Forschungsgruppen zeigen u. a., dass der Optimismus der Arbeiter bezüglich der Erreichung des Gleichheitsideals kleiner geworden ist.{308} Und als wichtigste Ursache für Konflikte im Betrieb nannten die befragten Arbeiter – und zwar über 67% - nicht die von Szczepan´ski konstatierten Probleme der Gewöhnung an die Maschinenarbeit, der Technik etc., sondern die Einkommensunterschiede.{309}
Allerdings scheint mir das vorhandene Material nicht den Schluss zuzulassen, es habe sich in der polnischen Gesellschaft eine herrschende Klasse analog zur Bourgeoisie in den kapitalistischen Ländern herausgebildet. Die Zugehörigkeit zur Intelligentsia bspw. bedeutet keineswegs in jedem Fall hohes Einkommen oder gar Beteiligung an der politischen Macht. So lag das monatliche Nettoeinkommen von Grundschullehrern 1974 bei 2‘944 zł., also noch unter dem Durchschnittslohn in der vergesellschafteten Wirtschaft (3‘185 zł.); Lehrer an Lyzeen verdienten 3‘477 zł., an Berufsschulen 3‘604 zł. und an höheren Berufsschulen 4‘052 zł.{310} Besser, aber doch schlechter als Hochschulabsolventen in der Industrie verdienen Ärzte (1974 - 5‘569 zł. netto) und Zahnärzte (4‘296 zł netto).{311}
Allerdings muss wiederum bezweifelt werden, ob und inwieweit diese Zahlen für die genannten Berufsgruppen repräsentativ sind. Hinzu kommt, dass die Ausübung zusätzlicher Tätigkeiten weit verbreitet ist und handwerkliche Dienstleistungen enorme Verdienstmöglichkeiten bieten.{312} Ähnlich sieht es auf dem Wohnungsmarkt{313} und in anderen Bereichen aus. All diese Probleme werden in der polnischen Presse offen diskutiert und angeprangert. Entsprechend ist die politische Führung angestrengt bemüht, Schlamperei, Korruption, unsolidarisches Verhalten, Alkoholismus etc. mit Worten und mit Androhung von Sanktionen zu bekämpfen. Doch soweit ersichtlich ohne direkte Zwangsmassnahmen – und offenbar wenig erfolgreich.
Für den Aussenstehenden ist es leicht, der Partei und der politischen Führung etwa vorzuwerfen, sie zeige mangelnde Härte im Kampf gegen die immer noch mächtige Katholische Kirche, unterdrücke längst fällige Arbeiterselbstverwaltungen bzw. schränke diese zu stark ein, sei schuld an den Versorgungsproblemen, da sie die längst überfällige Kollektivierung oder doch wenigstens Reformierung der Landwirtschaft versäumt habe, die Industrialisierung zu Lasten des Konsums zu schnell vorangetrieben – und doch gleichzeitig ein konsumorientiertes, technokratisches Bewusstsein gefördert habe und schlussendlich auch sei sie ebenfalls schuld an dem wuchernden Bürokratismus. Eine solche Kritik, welche die Ursache aller Probleme im politischen und ökonomischen System – oder anders: im Gesellschaftssystem und in den bestehenden Produktionsverhältnissen sieht, übersieht m. E. nicht nur, dass Übergangsprozesse immer auch von den Traditionen des Landes, früheren Verhaltensmustern und sozialen Beziehungen, also dem Stand und den Umständen der vorherigen Produktionsverhältnisse geprägt bleiben und dass es zudem das erste Mal in der Geschichte der Menschheit ist, dass der Versuch unternommen wird, gesamtgesellschaftliche Prozesse bewusst zu planen und in Angriff zu nehmen, sondern diese Kritik übersieht auch, dass es sich hier um einen ökonomischen Umwandlungsprozess handelt, nämlich die Industrialisierung, die gleich in welchem Gesellschaftssystem mit enormen Schwierigkeiten verbunden ist. (Hinzu kommt, dass im Gegensatz zur kapitalistischen Industrialisierung diese aus eigener Kraft, ohne Ausbeutung und Kolonialisierung fremder Völker geleistet wird.)
Die Möglichkeit einer Verwirklichung der Ziele des Sozialismus wird von der Mehrheit der polnischen Soziologen und Gesellschaftswissenschaftlern erst mit der Entfaltung der Industrie, der vollen Entwicklung der Produktivkräfte, gesehen.{314} Polen aber steht erst am Anfang dieser neuen Etappe. Für die gegenwärtige Situation aber wird insbesondere zur Überwindung der anstehenden ökonomischen Probleme die gesellschaftliche Differenzierung, - die sich u.a. aus der historisch gewachsenen Arbeitsteilung, dem kulturellen und ökonomischen Gefälle zwischen Stadt und Land, verschiedenem Ausbildungsniveau und damit auch verschiedenen Wissensständen und Erkenntnismöglichkeiten von Struktur und Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, - nach Einkommen, Bildung und politischer Macht als unvermeidbar angesehen, also: dem Stand der Produktivkräfte entsprechend. (Was aber wiederum nicht heissen soll, dass zur Überwindung dieser Unterschiede nichts getan werde oder dass andererseits bspw. alle Einkommensunterschiede in gegebenen Relationen etwa objektiv notwendig wären.{315})
Wie die bisherige Entwicklung der Volksrepublik Polen gezeigt hat, hat die relativ junge polnische Arbeiterklasse im Laufe der Entwicklung ein immer stärker werdendes gesellschaftliches Bewusstsein entwickelt und reagiert auf fehlerhafte oder undurchsichtige Entscheidungen der ihre Interessen vertretenden Partei zunehmend fordernder und selbstbewusster.
II. PAMIĘTNIKI LEKARZY – AUS DEN TAGEBÜCHERN UND ERINNERUNGEN POLNISCHER ÄRZTE
War im vorhergehenden Kapitel versucht worden, eine möglichst objektive Darstellung des Wandlungsprozesses, in welchem sich die polnische Gesellschaft seit Gründung der Zweiten Republik bis Mitte der Siebziger Jahre befand, wiederzugeben, so soll im Folgenden die Auseinandersetzung zwischen den Traditionen, den politischen und wirtschaftlichen Wandlungen, Okkupation und Zerschlagung der alten Gesellschaftsstrukturen von der subjektiven Seite her beleuchtet werden und zwar im Hinblick auf unser Thema exemplarisch an Hand der Alltagserfahrungen polnischer Ärzte.
Aus der Fülle interessanter Pamiętniki (was sowohl Erinnerungen als auch Memoiren oder Tagebücher heisst), die im Rahmen eines 1958 von der Wochenzeitung „Służba Zdrowia” (Das Gesundheitswesen) veranstalteten Wettbewerbs eingesandt und ebendort veröffentlicht wurden – insg. wurden 107 Arbeiten eingesandt -, erschienen sechs Jahre später sechzehn Arbeiten in dem Sammelband: „Pamiętniki lekarzy“ (Die Lebenserinnerungen von Ärzten){316}, in welchem auf über 1‘000 Seiten die Lebenserinnerungen von drei Generationen wiedergegeben werden. Wenngleich es richtig ist, wenn von Autoren wie Szczepański, Wiatr u.a. festgestellt wird, dass der soziale Umwälzungsprozess sich nur langsam vollzieht, insbesondere die Mikrostrukturen sich als weitaus beständiger erweisen als jede Makrostruktur, so zeigen diese Alltagserfahrungen doch recht deutlich, welch entscheidenden Einfluss Veränderungen in der sog. gesellschaftlichen Makrostruktur auf die persönlichen Lebensumstände, das Verhalten und die Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins des Einzelnen haben.
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