Henry Beland - Zur Entwicklung des industrieärztlichen Gesundheitswesens und der Rolle der Industrieärzte in der Volksrepublik Polen.

Nun ist es sicher richtig, wenn Starkiewicz sich gegen einen Vergleich mit diesem romantischen Helden wehrt. Dennoch haben Starkiewicz, Stefański, Koronkiewicz und viele andere der in der Anthologie berichtenden Ärzte mit Judym eines gemeinsam: in ihrem mehr oder weniger bewussten Versuch, gegen ein „Meer von Elend“ anzukämpfen, blieben sie in der Vorkriegsgesellschaft im wesentlichen auf sich gestellt, blieben Einzelkämpfer.

Ihr Kampf gegen das „Meer von Elend“ war moralisch motiviert. Gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen den Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft bleiben weitgehend unverarbeitet – oder jedenfalls werden sie nicht erwähnt. Und wie Dr. Judym stehen sie alle allein, sind Einzelkämpfer in einer Gesellschaftsformation, deren Logik von der Mehrzahl als unvermeidlich akzeptiert wird. Doch die Anthologie lässt nicht vorwiegend „Helden“ zu Wort kommen, nicht Märtyrer, die sich bewusst auflehnten und aufopferten. In den meisten Berichten agieren nicht die Autoren, sondern sie setzen sich lediglich zur Wehr. Sie reagieren. Dies nicht, um Privilegien durchzusetzen, sondern es geht ihnen darum, ihre Existenz zu erhalten oder gar ihr Leben zu retten. Dennoch wäre der Eindruck falsch, würde man jetzt annehmen, die polnischen Ärzte der Zwischenkriegszeit hätten in Elend gelebt.

Sicher gelang es den meisten Ärzten der Zwischenkriegszeit, sich materiell zu etablieren. Der Arzt Romuald W. Gutt meint sogar, die „Gattung des Hais“ war bei den Ärzten vorherrschend. An dem materiellen und sozialen Elend des überwiegenden Teils der Bevölkerung änderte sich in dieser Zeit, wie ebenfalls aus den „Pamiętniki“ hervorgeht, jedenfalls kaum etwas. Doch jede gesellschaftliche Tätigkeit, ob philanthropischer Natur oder zum eigenen Nutzen und zur Entwicklung einer wohlhabenden polnischen Bourgeoisie, verlor mit der Okkupation durch das nationalsozialistische Deutschland von einem Tag auf den anderen jeden Sinn. Wie der Arzt Felicjan Loth schreibt, habe selbst Hippokrates in seiner grossen Weisheit die Errichtungen der Gestapo nicht voraussehen können. Im letzten Teil der Anthologie wird kurz auf Berichte aus jener Zeit eingegangen, in welcher fast die Hälfte der polnischen Ärzte, ca. 6‘000 von 13‘000, ihr Leben liess.

Bei der Wiedergabe der im Folgenden zusammengefassten vier Lebenserinnerungen habe ich mich bemüht, die Intentionen und den Sprachgebrauch der jeweiligen Autoren möglichst getreu nachzuempfinden, so dass eine Authentizität mit den ursprünglichen Texten, soweit dies bei einer Übersetzung, Zusammenfassung und indirekter Wiedergabe möglich ist, gewahrt bleibt.

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