„Allgemein gesagt, das komplizierte Netz der Institutionen, welches die Beschaffung etc. der Mittel für die neuen Fabriken durchlaufen muss, bewirkt, dass die Prozesse durch sie gebremst (…) verlaufen. Auch der Einfluss der Industrie auf andere Bereiche der Wirtschaft verläuft (…) kompliziert; er ruft keine geordneten und geplanten Erscheinungen hervor, mobilisiert nicht alle Reserven und führt nicht dazu, dass alle potentiellen Möglichkeiten, die das neue Industrieunternehmen schafft, genutzt werden.“{241}
Wenngleich sich neue gesellschaftliche Differenzierungen herausbildeten, so sei es doch nicht zur Herausbildung neuer antagonistischer Klassen gekommen. Aufgrund der vorliegenden Untersuchungsdaten könne man sagen, dass sich drei Arten einer Schichtung herausgebildet hätten: die politische, die ökonomische und die kulturelle Schicht, die aber nicht notwendig miteinander korrelieren. „Die politische Macht in den Händen zu haben, heisst nicht – hohes Einkommen. Ein hohes Bildungsniveau heisst weder Beteiligung an der politischen Macht noch Garantie eines hohen Einkommens. Diese drei Arten der Schichten kreuzen sich, sind überlagert durch die alte Aufteilung in Klassen und Schichten und werden verstärkt durch die traditionellen Ansichten von Über- und Unterordnung. (…) Es scheint, als ob die Entwicklungstendenz zu einem allmählichen Verschwinden der traditionellen Unterteilung führt und dass die Klassenwerte … sich umformen und zur Herausbildung von Berufskategorien und einer gesellschaftlichen Werteskala führen. (…) Eine typische Massenkultur, wie wir sie aus den Beschreibungen der Industriegesellschaften kennen, konnte sich… noch nicht voll entwickeln (…). (Erst) die Massenproduktion der täglichen Bedarfs- und Konsummittel ermöglicht … die volle Entfaltung der technischen Zivilisation (…). (Das Tempo der Entwicklung) hängt vom Wirtschaftswachstum (…) (und) vom Funktionieren des Wirtschaftssystems als Ganzem ab. Wenn sich … traditionelle Elemente halten oder gar überwiegen, so einfach deshalb, weil das technische und ökonomische System fehlt (…). Selbst wenn das Bewusstsein von der Notwendigkeit von Innovationen besteht – es gibt keine Mittel, um sie in das praktische Leben einzuführen. So sind also die Umwandlungen des Lebensstils, ihre Durchführung und ihr Tempo, Resultat des ökonomischen Fortschritts der Industrialisierung auf Landesebene.“{242}
Wie in den vorangegangenen Etappen, so treten auch in dieser Entwicklungsphase Formen der gesellschaftlichen Desorganisation auf. Allerdings sei das vorliegende Material zu unzureichend, um festzustellen, ob eine Korrelation zwischen der Stabilisierung des Industrialisierungsprozesses und Formen und Intensität von Verhaltensweisen wie Alkoholismus, Prostitution, Sexualverbrechen etc. besteht.{243} In gewissem Sinne automatisch komme es jedoch zu Wirtschaftsdelikten. Diese ergeben sich nicht nur aus den objektiv vorhandenen Möglichkeiten (s.o.), sondern auch aus dem spezifischen Verhalten der Beteiligten. Es bestehe ein innerer Widerspruch zwischen der – ideologisch – erwarteten Motivation der Beteiligten und ihren tatsächlichen Motivationen. Die Menschen verhielten sich nicht so, wie es vom „wirtschaftenden Menschen im Sozialismus“ erwartet werde, - und dies sei auch kein Wunder. „Um es klar zu sagen, die Arbeitnehmer (…) haben noch Ansichten und Bedürfnisse, wie sie für das vorherige Wirtschaftssystem charakteristisch waren.“{244} Und Gesetze, so Szczepan´ski weiter, helfen nur, wenn sie den grundlegenden Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. Andernfalls werden ihre Grenzen „systematisch und ständig überschritten.“{245}
Nun ist auf die Abhängigkeit der sozialen Prozesse von den Begleitumständen der Industrialisierung in den ländlichen Rayons sowie vom gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand bereits mehrfach verwiesen worden. Eine kritische Analyse dieser Entwicklung soll und kann hier nicht geleistet werden. Doch muss nach bisheriger Darstellung zu der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung noch einiges gesagt werden. Fragestellung und Darstellungsweise ist dabei weitgehend die gleiche wie bisher: Wie wirkte sich die ‚sozialistische Industrialisierung‘, der geplante Umwälzungsprozess, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolutionierung des alten Systems der Produktionsweise und der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Agierenden und diesen Prozess tragenden Gesellschaftsmitglieder aus? Welche Veränderungen fanden in der Struktur der Arbeiterklasse statt und welche Konsequenzen ergaben sich daraus und aus den neuen ‚gesellschaftlichen Differenzierungen‘, Schichtungen bzw. Klassenverhältnissen? Und welche gesellschaftlichen Konsequenzen hat schliesslich die Errichtung einer „vergesellschafteten technischen Zivilisation“?{246}
5.2.2 Zu den gesellschaftlichen Begleiterscheinungen der Industrialisierung im gesamtgesellschaftlichen Rahmen
5.2.1.4 Die Phase der grundlegenden Industrialisierung
Die ersten Nachkriegsjahre, in denen nach der bereits 1944 bis Sommer 1945 durchgesetzten Landreform die Verstaatlichung der Betriebe durchgeführt wurde{247}, waren von Chaos, materiellem Elend und bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Kampf um die politische Macht gekennzeichnet, was bis 1947/48 andauerte. Mit dem 3-Jahresplan 1947-1949, der einen Zuwachs der Beschäftigten ausserhalb der Landwirtschaft von 2.5 Mio. auf 3.3 Mill Beschäftigte vorsah,{248} wurden die Grundlagen für die folgenden sechs Jahre, den Beginn der forcierten Industrialisierung, gelegt.
Die arbeitsfähige Bevölkerung setzte sich zu einem grossen Teil aus den sog. „gesellschaftlich Geretteten“, d. h. aus Kranken zusammen; Menschen, die dem Schutz der Familie und jeglicher Fürsorge beraubt waren, Repatrianten aus der UDSSR, Millionen von ehemaligen Zwangsarbeitern aus Deutschland, überschüssigen Landarbeitern etc. 1946 wurden 75‘000 Arbeitslose registriert. Eine Zahl, die der tatsächlichen Arbeitslosigkeit wohl kaum entsprach. Schwarzmarkt und illegaler Handel der Okkupationszeit blühten auf und qualifizierte Facharbeiter in nennenswertem Umfang kamen erst in den folgenden Jahren mit der Rückkehr der Westemigranten, vor allem aus Belgien und Frankreich, ins Land.{249}
Zur Bekämpfung dieser Misere wurde u.a. das Schulsystem drastisch ausgeweitet. Die Zahl der Grundschulen stieg innerhalb von 3 Jahren, von 1945 bis 1948, von knapp 15‘000 auf ca. 22‘000 Schulen, die der Schüler im gleichen Zeitraum von 2.5 Mio. auf 3.4 Mio. Wurden 1939 im damaligen Staatsgebiet ca. 89‘000 Lehrer beschäftigt, so waren es 1946 trotz des grossen Aderlasses der polnischen Intelligentsia bereits knapp 110‘000.{250}
Zwar war die Klassenstruktur der Vorkriegszeit durch Krieg und Okkupation bereits weitgehend zerstört und Grossgrundbesitz und Grosskapital war mit den Reformen die materielle Basis entzogen worden, doch hatte die Bourgeoisie, wie Szczepan´ski feststellt, eine gewisse Überlebenschance, denn es waren nur Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten verstaatlicht worden. 1947 gab es noch ca. 300‘000 Privatunternehmen, über 170‘000 waren Handwerks- und kleinere Industriebetriebe.{251} Bis 1956 wurde diese Zahl noch erheblich reduziert, nahm dann jedoch wieder zu und zeigt bis heute eine leicht steigende Tendenz. Um die 53% aller handwerklichen Dienstleistungs-betriebe war 1974 in Privatbesitz.{252} Insgesamt allerdings überwiegen in Einzelhandel, Gastronomie etc. seit der ersten Hälfte der 50-er Jahre bei weitem die verstaatlichten Betriebe.{253}
Szczepan´ski betont, dass das neue System für die Arbeiter als Klasse erhebliche politische und gesellschaftliche Verbesserungen brachte. An der Gestaltung des Systems hatte die Arbeiterklasse entscheidenden Anteil.{254} Auch im Betrieb wurde ihre rechtliche Position wesentlich verbessert. Doch die Arbeiter blieben Lohnarbeiter, dem von den Maschinen diktierten Arbeitsrhythmus unterworfen und das technische Niveau hatte aufgrund der Zerstörungen kaum verbessert werden können. Im Gegenteil, es war noch niedriger als vor dem Krieg.{255}
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