Zuerst hatte er gedacht, sie käme von einer Firma, um ihm ein neues Massenspektrometer anzubieten. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, danach gefragt zu haben. Selbst wenn, hätte er an der Universität oder in Paris dazu genug Möglichkeiten gehabt. Nachdem sie ihm glaubhaft machte, dass sie keine Firmenvertreterin war, versuchte er ihr begreiflich machen, dass das LC-MS/MS Gerät an seiner Fakultät durchaus funktionierte.
Da sie aber so stur darauf beharrte, ließ er sie weiterreden. Als der Name Sandrine Martin fiel, begann Eugène Fromentin allmählich zu verstehen. Über diesen Weg war Madame Anke, sie hatten sich darauf geeinigt, sich mit ihren Vornamen anzureden, also auf ihn gekommen. Ihr Institut wäre sehr an einer Zusammenarbeit mit Partnerinstituten in Frankreich interessiert. Sandrine Martin hätte doch einen interessanten Vortrag am LEAG gehalten und dabei auch die technischen Probleme mit dem LC-MS/MS Gerät an der Universität erwähnt.
„Ja, Eugène“, sagte Madame Anke: „Sandrine Martin musste doch nur deswegen das Thema ihrer Doktorarbeit wechseln. Es ist doch sehr schade, wenn der Grund dafür nur ein technisches Problem ist.“
Eugène Fromentin begann, sich seine Gedanken zu machen. Ob Mademoiselle Martin denn erwähnt hätte, wofür sie das LC-MS/MS Gerät benötigte?
„Es ging dabei hauptsächlich um den Nachweis des Pilzgiftes Patulin und wohl um Mykotoxine im Allgemeinen“, erwiderte Madame Anke und erzählte, dass an ihrem Institut drei solcher Geräte zur Verfügung ständen. Falls seine Fakultät also in dieser Hinsicht Hilfe bräuchte, würde sie das gerne vermitteln.
Der Dekan hatte begriffen, dass er in diesem Gespräch nicht viel mehr erfahren würde. Er bedankte sich höflich für das Angebot, auf das er gegebenenfalls gerne zurückkäme. Er wäre ja auch für eine Kooperation zwischen den Instituten innerhalb der EU und man könnte ja über gemeinsame Projekte gegebenenfalls nachdenken.
Offenbar schien Madame Anke nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben. Sie bot an, jederzeit nach Paris zu kommen, wenn derartige Planungen anstünden.
Eugène Fromentin versprach, sich bei ihr zu melden und notierte sich ihre Telefonnummer und die Adresse des LEAG in Berlin.
Nachdem er aufgelegt hatte, begann er zu grübeln, was dieser Anruf bedeutete. Vor zwei Wochen hatte Sandrine Martin ein paar Tage Urlaub genommen. In dieser Zeit musste sie in Berlin gewesen sein. Aber woher kannte sie dieses Institut und warum hatten die Leute vom LEAG sie eingeladen? Sie musste dort etwas über ihre Arbeiten an Patulin erzählt haben und sicherlich auch über ihre Untersuchungen an Cidre und Calvados. Was führte Sandrine Martin im Schilde?
Er war sich sicher gewesen, diese Sachen wären endgültig begraben und vergessen. Der Generalrat Théodore Leroy hatte ihm unmissverständlich klargemacht, was auf ihn zukäme, wenn auch nur etwas von diesen Untersuchungen die Öffentlichkeit gelänge. Der Politiker Leroy konnte seine Drohungen in Form von Ratschlägen subtil verpacken. Aber Fromentin machte sich da keine Illusionen. Schließlich war da noch das Foto gewesen, dass sie ihm anonym zugeschickt hatten. Eine Sache war klar, wenn Leroy und seine Parteikameraden Wind davon bekämen, was Sandrine Martin beabsichtigte, dann würde nicht nur sie, sondern auch er erhebliche Probleme bekommen.
Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er auf den Zettel mit der Telefonnummer und dem dazugehörigen Namen Anke Barkowski. Sie hatte ihn dreimal buchstabieren müssen, bevor er ihn richtig notieren konnte. Eigentlich wollte er den Papierfetzen gleich nach dem Gespräch wegwerfen, aber nun entschied er sich dafür, ihn zu behalten. Vielleicht musste er Madame Anke noch einmal anrufen, um mehr darüber zu erfahren, was Sandrine Martins Absicht war.
Sollte er seine Studentin mit dem, was er gerade erfahren hatte, konfrontieren? Von sich aus hatte sie ihm nichts davon erzählt und so zog er es vor, eigene Erkundigungen einzuziehen. Er wählte die Nummer von Pierre Duval, der das LC-MS/MS Gerät der Fakultät betreute. Duval versicherte ihm, dass Sandrine seit damals nicht wieder darum gebeten hatte, Proben auf dem Gerät zu messen. Er hätte das auf jeden Fall mitbekommen. Ohne seine Unterstützung konnte niemand einfach Messungen am LC-MS/MS durchführen.
Fromentin hatte sich danach wieder beruhigt. Eigentlich war bisher ja nichts weiter passiert. Vielleicht hatte Sandrine Martin eingesehen, dass sie nach ihrer Promotion nicht weiter an der Fakultät bleiben konnte und ihre Stellensuche über die Grenzen Frankreichs hinaus ausgedehnt. Dabei war sie vermutlich auf das LEAG in Berlin gestoßen und eine Einladung zu einem Vortrag bekommen. Dort hatte sie dann über alles berichtet, worüber sie bereits gearbeitet hatte.
Er nahm sich vor, Sandrine Martin zunächst nicht auf den Anruf aus dem LEAG anzusprechen. Allerdings musste er ein verstärktes Augenmerk auf seine Studentin richten, um unliebsamen Überraschungen vorzubeugen.
12. Berlin-Dahlem, im Frühjahr 1991
Die ersten Wochen und Monate am LEAG waren wie im Flug vergangen. Bernadette machte ihre Arbeit großen Spaß, sie war umgänglich und Leo freute sich über die Gewissenhaftigkeit, mit der sie ihren Aufgaben nachging. Inzwischen waren auch einige der bestellten Laborgeräte eingetroffen und sie konnten die ersten Mutationstests durchführen.
Malus hatte zuerst gezögert, aber dann Leos Vorschlag zugestimmt, Sandrine Martin für drei Monate als Gastwissenschaftlerin am LEAG zu beschäftigen. Die Vorstellung, mit innovativen Methoden beim Institutspräsidenten Hampel aufzufallen, schmeichelte ihm. Sie überwog seine Abneigung gegen die Person Sandrine Martin. Diese Frau war ihm schon von ihrer Erscheinung her als unangepasst und von ihrem Reden als eigensinnig in Erinnerung geblieben. Das waren genau die Eigenschaften, die Bernhard Malus an anderen Menschen hasste. Aber es ging ja nur um eine begrenzte Zeit, in der die Französin am LEAG tätig sein würde.
Auch Leo Schneider vermittelte ihm mehr denn je den Eindruck, als wollte er nicht bei allem mitziehen, was er als sein Vorgesetzter für richtig hielt. Schneider und seine Assistentin passten sich nicht an, im Gegenteil, sie sonderten sich ab. Kürzlich hatte sich die Kollberg bei ihren Kolleginnen über anzügliche Bemerkungen von Ferdinand Prause beklagt. Die klatschsüchtige Bärbel Rudolf musste das gleich überall herumerzählen und Prause stritt alles so vehement ab, dass es nicht leicht fiel, ihm seine Unschuldsbeteuerungen zu glauben.
Aber letztendlich waren das doch Kinkerlitzchen. Bernhard Malus verstand nicht, wieso diese Leute sich das Leben so schwer machten. Sie brauchten sich doch nur an die Gegebenheiten anpassen, davon ging ihnen doch nichts ab! Früher waren solche Damen mehr darum bestrebt, ihrem Chef zu gefallen und sahen geflissentlich darüber hinweg, wenn der vielleicht mal über die Stränge schlug. Heute riefen sie gleich nach der Gewerkschaft, der Gleichstellungsbeauftragten oder drohten sogar mit Strafanzeigen.
Bernhard Malus lockerte seine Krawatte, was er nur dann tat, wenn er allein war. In letzter Zeit hatte er öfter das Gefühl, in der Gegenwart von anderen zu wenig Luft zu bekommen. Sein Blick fiel auf den Terminkalender, der neben dem Foto seiner Frau auf dem Schreibtisch stand. Morgen war der wöchentliche Termin mit dem Abteilungsleiter. Bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus und er tupfte sich die Stirn mit einem Taschenbuch ab. Er durfte sich in seiner Fachgruppe keine Schwachheiten leisten. Auch Leo Schneider und Bernadette Kollberg waren nur auf Zeit angestellt. Dabei sollte es auch bleiben. Sie erfüllten ihren Zweck, blieben aber nur vorübergehende Erscheinungen, wenn man das aus der Sicht eines Beamten sah, der eine lebenslange Laufbahn mit Aussicht auf regelmäßige Beförderungen vor sich hatte.
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