Er war auf die Loyalität seiner Untergebenen angewiesen und hatte keine Zweifel, was Anke Barkowski und Ferdinand Prause betraf. Deshalb kümmerten ihn die Vorwürfe der Kollberg gegen Prause nicht, selbst wenn sie der Wahrheit entsprachen. In der Vergangenheit gab es genug Situationen, in denen er die Loyalität von Prause und der Barkowski auf die Probe gestellt hatte. Die Letzte davon war Lindangutachten gewesen. Ihm war auch nicht entgangen, wie unwillig Schneider reagierte, als auch er mit unterschreiben musste. Das nächste Mal würde er sich vielleicht weigern, aber Malus wusste, wie man in solchen Fällen vorzugehen hatte.
Zum Glück für Sandrine und Leo wusste Bernhard Malus nichts von ihrer Absicht, die Cidre und Calvadosproben am LEAG weiter zu untersuchen. Außerdem kannte Malus die Vorgeschichte nicht. Leo hatte ein unverfängliches Thema für die Zusammenarbeit mit Sandrine Martin formuliert, das keinen Hinweis auf das Patulinprojekt enthielt.
Sandrine schrieb Leo in unregelmäßigen Abständen Briefe, in denen sie ihn über die Entwicklung an ihrem Fachbereich berichtete. In ihrem letzten Brief stand, der Dekan hätte sie darauf angesprochen, ob sie sich in Berlin am LEAG beworben hätte. Sie hatte ihn gefragt, wie er darauf gekommen wäre. Als er meinte, so etwas würde sich eben schnell herumsprechen, war sie beunruhigt. Sie hatte ihn daraufhin gebeten, ihr bei der Vermittlung einer geeigneten Stelle in Frankreich zu helfen. Schließlich sei die Stelle am LEAG nur für einen kurzen Aufenthalt als Gastwissenschaftlerin und danach stände sie wieder vor dem Nichts. Aber Fromentin war ausgewichen. Er wollte ihr in dieser Hinsicht keine Hoffnung machen und meinte nur, der Markt für Lebensmittelchemiker wäre zurzeit allgemein schlecht. Zwar versprach er, sich umzuhören, aber Sandrine merkte an seinem Verhalten, dass es ihm damit nicht ernst war. Wahrscheinlich war sie durch die Geschichte um den Calvados auf einer schwarzen Liste von Personen gelandet, die man tunlichst nicht einstellte, wenn man Ärger vermeiden wollte.
Nachdem Leo ihren Brief gelesen hatte, rief er sie gleich an. Sandrine fragte vorwurfsvoll, ob er es gewesen war, der sich bei Fromentin über sie erkundigt hatte. Als Leo das entsetzt abstritt, blieb sie trotzdem reserviert und er bekam das Gefühl, sie würde ihm nicht recht glauben.
Für Leo war klar, dass Bernhard Malus den Dekan kontaktiert haben musste. Es war die einzige logische Erklärung. Mit dem Antrag, Sandrine als Gastwissenschaftlerin einzustellen, hatte Malus alle Informationen über sie bekommen, einschließlich der Kontaktadresse zur Universität in Paris.
Inzwischen waren acht Monate vergangen, seitdem Sandrine in Berlin gewesen war. Bei ihrer Abschlussprüfung am 20. Mai hatte Fromentin ihr keine Schwierigkeiten bereitet. Als Gesamtnote bekam sie von der Prüfungskommission jedoch nur ein Gut . Damit war ihre Chance auf null gesunken, an einer anderen Universität in Frankreich eine Stelle zu bekommen. Sandrine war überzeugt, dass ihre Note durch Fromentins Einflussnahme zustande gekommen war. Sie kannte die anderen Mitglieder der Prüfungskommission und wusste, dass diese ihr sicherlich eine Weiterbeschäftigung an dieser oder einer anderen Universität gegönnt hätten. Aber der Dekan als Leiter der Prüfungskommission hatte seinen Willen durchgesetzt.
Sandrine konnte sich denken, warum er das getan hatte. Fromentin war ihr gegenüber misstrauisch und wollte verhindern, dass sie an einer anderen Universität in Frankreich ihre Arbeiten zu Patulin wieder aufnahm. Fromentin, als ihr Doktorvater und ehemaliger Chef, wäre dann erneut damit konfrontiert gewesen. Leroy und seine Komplizen schienen Fromentin völlig in der Hand zu haben, wenn er alles tat, um das zu verhindern. Wie sie es auch immer sah, Berlin und Leo Schneider waren ihre einzige Chance, weiter in ihrem Beruf arbeiten zu können. Sie war fest entschlossen, diese auch zu nutzen.
13. Berlin, Friedrichstraße, 15. April 1991
Christine Bergmann überkamen zwiespältige Gefühle, nachdem Herbert Kunze, der Chefredakteur von AFT-Kultur, sie zu einer Besprechung in sein Büro in der Friedrichstraße eingeladen hatte. Der Sender war kurz nach der Wende in ein Bürohaus im Bezirk Mitte eingezogen. Hier herrschte noch das Flair des alten Ostberlin. Allerdings hatte man an vielen Stellen schon damit begonnen, die Fahrbahn aufzubrechen und Baugruben auszuheben, um die Friedrichstraße in eine Einkaufsmeile zu verwandeln, die dem Kurfürstendamm in Westberlin Konkurrenz machen sollte.
Herbert Kunze hatte ihr keinen konkreten Grund für das Treffen genannt, nur gemeint, es ginge um ihre berufliche Zukunft und das wollte er gerne mit ihr persönlich bereden. Berufliche Zukunft, darunter konnte man sich alles Mögliche vorstellen, und daher verging die Zeit bis zum Gesprächstermin mit Herbert Kunze viel langsamer, als Christine es normalerweise gewohnt war. An diesem Tag war sie sehr zeitig von ihrer Wohnung aus aufgebrochen. Von den S-Bahnhöfen Friedenau bis Friedrichstraße dauerte die Fahrt nur einige Minuten, jedoch wollte sie keinesfalls zu spät kommen. Sie kannte den S-Bahnhof Friedrichstraße noch als Grenzübergang zwischen West- und Ostberlin und sah die Abfertigungshalle, die später unter dem Namen Tränenpalast in eine Disco umgewandelt worden war. Vom S-Bahnhof lief sie die Friedrichstraße in südlicher Richtung, überquerte den Boulevard Unter den Linden , bis sie schließlich vor dem aus den achtziger Jahren stammenden Bürogebäude stand. Als Christine die Flügeltür zum Eingang des Hauses aufstieß, roch es noch nach den typischen Reinigungsmitteln, die sie aus früheren Besuchen in der DDR kannte.
Christine verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu benutzen und lief mit eiligen Schritten die Treppen hoch bis in die vierte Etage. Herbert Kunze sollte ihr die Aufregung nicht anmerken. Ihr heftiger Atem und ihr gerötetes Gesicht ließen sich gut mit der Anstrengung beim Treppensteigen erklären, worauf sie ihn scherzhaft hinwies. Christine rechnete mit allem, einschließlich ihrer Entlassung. Sie wusste nicht, wie AFT finanziell dastand und mit dem neu gegründeten deutsch-französischen Fernsehsender ARTE war ihrem Sender eine bedeutende Konkurrenz entstanden.
Herbert Kunze empfing sie in seinem modern eingerichteten Büro mit Kaffee und Gebäck. Kaum hatte sie sich hingesetzt, stimmte er ein Loblied auf ihre Kulturreportagen aus Frankreich an. Ihre Sendungen wären beim Publikum sehr gut angekommen und daher wollte man ihr bei AFT mehr Entwicklungsmöglichkeiten und Kompetenzen einräumen. Daher wollte man sie gerne dafür gewinnen, mit ihrem Arbeitsplatz ab dem 1. Juni von Berlin nach Paris zu wechseln.
Christine war auf alles gefasst gewesen, nur nicht, in Kürze nach Paris zu ziehen. Es dauerte einen Moment, bis sie Herbert Kunzes Vorschlag in seiner Tragweise erfasst hatte. Paris, das war natürlich verlockend.
„Sie werden in Paris natürlich nicht nur auf sich allein gestellt sein, sondern bekommen Unterstützung durch ein festes Team von Mitarbeitern. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in Issy-les-Moulineaux , unser Hauptsitz in Frankreich. Von dort können Sie Ihre Reportagen viel effizienter planen und koordinieren.“
Nachdem er ihr das eröffnet hatte, lehnte sich Kunze in seinem Sessel zurück, trank seinen Kaffee und beobachtete Christine, wie sie seine Ankündigung aufnahm.
Christine war von Kunzes Ankündigung überwältigt. Nach seinem Gesichtsausdruck erwartet er wohl, dass sie ihm vor Dankbarkeit um den Hals fiel. Ein Leben in Paris, das hatte sie sich schon immer erträumt und wollte seinem Vorschlag spontan zustimmen, aber dann zögerte sie doch.
Was würde aus ihr und Leo werden? Leo war durch seine Arbeit am LEAG für die nächsten Jahre an Berlin gebunden. Er würde nicht ohne ein gutes Stellenangebot mit nach Paris gehen. Auch dann nicht, wenn sie dort so viel verdiente, dass sie ihn auch ohne Anstellung problemlos hätte mit durchfüttern können.
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