Malus nickte bestätigend. „Das sehe ich allerdings genauso.“
Die Anwesenden, die das Wortgeplänkel mehr oder weniger interessiert verfolgt hatten, verharrten im Schweigen.
Nach einem kurzen Moment erhob sich Malus erneut von seinem Stuhl und ließ die Augen über die kleine Runde wandern: „Gibt es noch weitere Fragen?“
Niemand meldete sich.
„Dann war es das wohl! Vielen Dank!“
Nach dieser Feststellung knüpfte er sein Sakko zu und ging zur Tür. Ferdinand Prause beeilte sich, hinter ihm aufzuschließen und redete auf ihn ein. Leo verstand in dem allgemeinen Gemurmel und Scharren der Stühle nicht, was er zu Malus sagte.
Leo hatte eine Menge Fragen an Sandrine, wollte diese aber nicht vor den Anwesenden stellen. Er verfluchte Malus für die herablassende Art, mit der er Sandrine behandelt hatte. Außerdem schämte er sich, weil er Sandrine nicht in Schutz genommen hatte. Aber was hätte er als Argument gegen diese Sticheleien vorbringen können?
Ihm fiel ein, wie perplex er gewesen war, als Malus ihn und die anderen überrumpelt hatte, sein Gefälligkeitsgutachten zu unterschreiben. War das alles nicht bereits ein Hinweis darauf, dass auch er dabei war, der moralischen Korruption in diesem Institut zum Opfer zu fallen?
Sandrine war schweigsam und bedrückt, als sie am späten Nachmittag mit Leo in dessen Wohnung fuhr. Er versuchte, sie in bessere Stimmung zu versetzen.
„Machen Sie sich nichts daraus, Sandrine! Malus gehört zu den Leuten, die jede Interessenkollision mit der Industrie tunlichst vermeiden wollen. Deshalb wollte er auch Ihre Befunde zu Patulin herunterspielen.“
„Aber er hat den kritischen Punkt erkannt. Der endgültige Beweis ist nicht erbracht, solange die LC-MS/MS Untersuchungen an den Proben nicht durchgeführt worden sind.“
„Ist das wirklich so? Das ist ja schade, dann waren alle Ihre Vorarbeiten und das Probensammeln tatsächlich umsonst!“ Leo war seine Enttäuschung deutlich anzumerken.
Umso überraschter war er, als Sandrine daraufhin heftig ihren Kopf schüttelte. “Umsonst? Umsonst war gar nichts, Leo. Ich habe die Proben ja noch.“
Ihm verschlug es für einen Moment die Sprache. Christine hatte ihm erzählt, Sandrine hätte alle Arbeiten mit dem Patulin aufgegeben, aber warum hatte sie dann die Proben aufgehoben? Er musste unbedingt mehr darüber erfahren.
In der Zwischenzeit waren sie in der Rönnestraße angekommen. Sandrine sah sich neugierig um. Sie fragte, aus welcher Zeit die Häuser hier stammten. Sie stiegen die Treppen hoch bis zu seiner Wohnung im vierten Stock. Als sie oben angekommen waren und Leo die Wohnungstür aufschloss, war Sandrine erstaunt, wie hoch und wie groß die Räume waren.
„Altbau! Heutzutage ist das eher ein Luxus“, sagte Leo.
Sandrine nickte. Sie war beeindruckt und sah sich in der Wohnung um. Vom Flur gelangte man durch eine Tür in einen großen Raum, der mit altem Eichenparkett ausgelegt war. Von der Fensterseite konnte man weit über die Stadt blicken, eine weitere Tür wies zu einem Balkon.
„In Paris sind die Wohnungen oft viel kleiner. So eine Wohnung wäre dort für die meisten Leute kaum bezahlbar.“
Leo zuckte mit den Achseln. „Zum Glück ist die Miete hier nicht so hoch.“
Er deutete auf den großen Raum. „Das ist das Wohnzimmer. Bei Ihnen in Frankreich sagt man le salon, nicht wahr?“ Das wusste er von Christine. Dann zeigte er Sandrine das Gästezimmer, in dem ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine aufklappbare Couch standen. Er drückte ihr ein Schlüsselbund in die Hand.
„Dieser Schlüssel ist für Ihr Zimmer und die anderen sind für die Wohnung und die Haustür. Bettwäsche ist dort im Schrank.“
Nachdem Sandrine sich eingerichtet hatte, setzten sie sich beide auf den Balkon und sahen dabei zu, wie die Züge der S-Bahn auf der gegenüberliegenden Trasse in regelmäßigen Abständen vorbeifuhren. Sandrine zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich auf dem Klappstuhl zurück und atmete tief durch. Es war ihr anzumerken, wie die Anspannung, die der Tag mitgebracht hatte, von ihr abfiel.
„Apropos, mit Calvados kann ich nicht dienen“, sagte Leo schmunzelnd, „aber wenn Sie vielleicht Lust auf ein Bier hätten?“
„Gerne, gegen ein Bier habe ich gar nichts. Als Lebensmittelchemikerin kenne ich auch das deutsche Reinheitsgebot.“
„Womit wir wieder beim Thema Lebensmittelsicherheit wären.“ Leo lachte, ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Bier zurück.
Sandrine ging nicht auf seine Anspielung ein. „Schön haben Sie es hier. Wohnen Sie nicht mit Ihrer Freundin Christine zusammen?“
„Christine ist oft hier oder ich bei ihr, aber wir haben nie den Schritt gemacht, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen.“
Leo wollte nicht über seine Beziehung mit Christine zu sprechen. Manches hätten sie beide vielleicht anders machen können, aber jetzt war es dazu vielleicht zu spät. Er wusste es selbst nicht und war froh, dass Christine in diesem Moment nicht hier mit ihnen saß.
„Christine ist oft im französischen Sprachraum unterwegs. Zurzeit ist sie gerade in Belgien.“
„In Belgien? Franzosen und Belgier, das sind zwei Paar Schuhe!“ Sandrine schüttelte lächelnd ihren Kopf.
„Wir Franzosen machen oft Witze über die Belgier, so als wären wir etwas Besseres. Aber wenn Belgien nicht wäre, hätten viele junge Franzosen Probleme, einen Studienplatz zu finden. Bei uns ist alles überbelegt und viele gehen zum Studieren nach Belgien, wo es noch keine Studienplatzbeschränkungen gibt. Außerdem sprechen die meisten Belgier mindestens zwei oder sogar drei Sprachen. Davon können sich viele bei uns eine Scheibe abschneiden.“
„Ihr Englisch ist jedenfalls sehr gut, Sandrine.“
„Die Normandie hat gemeinsame Wurzeln mit England und meine Eltern haben mich vor dem Abitur für ein Jahr als Austauschschülerin nach Brighton geschickt. Das hat mir geholfen, mein Englisch zu verbessern.“
Nachdem sie mit ihren Bierflaschen angestoßen hatten, kam Leo auf Sandrines Bemerkung im Auto zu sprechen.
„Jetzt bin ich aber doch sehr neugierig geworden. Sie sagten vorhin im Auto, Sie hätten Ihre Proben noch!“
Sandrine nickte. „Eingefroren, an einem sicheren Ort. Ich hatte auch versprochen, Ihnen zu erklären, warum ich die Messungen am LC-MS/MS Gerät bei uns nicht durchgeführt habe. Vielleicht können Sie sich das ja inzwischen auch schon denken? Ich weiß nicht, was Ihnen Ihre Freundin Christine von unserer Begegnung alles berichtet hat?“
„Christine meinte, Sie wären sehr verbittert gewesen, weil Sie Ihre Arbeiten über das Patulin abbrechen mussten.“
„Verbittert? So kann man es auch nennen! Es gab politischen Druck und die Fakultät wollte daraufhin das Projekt nicht mehr weiterführen. Damit stand auch das LC-MS/MS Gerät für mich nicht mehr zur Verfügung. Der Dekan hatte mich vor die Wahl gestellt entweder zu gehen, oder mein Promotionsthema zu wechseln. Er wollte die Sache mit dem Patulin für immer vom Tisch haben und ich sollte alle Aufzeichnungen und Proben dazu vernichten. Aber ich habe sowohl die Protokolle als auch die Proben aus dem Projekt an einem sicheren Ort aufgehoben.“
Leo war beeindruckt. Sandrine war keine Duckmäuserin und hatte dem Dekan nur soweit nachgegeben, wie es unbedingt nötig war. Und was war mit ihm? Er hatte dem Gefälligkeitsgutachten des Bernhard Malus mit seiner Unterschrift einen Anstrich von wissenschaftlicher Abstimmung gegeben. Vielleicht konnte er das jetzt wiedergutmachen?
Leo dachte über eine Möglichkeit nach, wie er Sandrine unterstützen könnte. „Also, wie ich verstanden habe, fehlen Ihnen nur noch die LC-MS/MS Messungen, um ihre Studie abschließen zu können?“
„Richtig. Damit kann man genau bestimmen, wie hoch jede Probe mit Patulin belastet ist. Mit der Messung aller Proben wäre die Studie abgeschlossen.“
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