„Das ist nur einer der Gründe, warum ich meine Studien über Patulin an der Universität nicht weiter fortführen konnte.“
„Das LEAG ist recht groß. Geräte, die wir bei uns im Labor nicht haben, sind meistens an anderer Stelle im Institut vorhanden und man kann diese nach Absprache auch mitbenutzen. Wir machen das auch. Sie sehen ja, dass wir selbst auch nicht besonders gut ausgestattet sind.“
„Ach so? Dann haben Sie am LEAG bestimmt auch ein Massenspektrometer. Kennen Sie sich damit aus?“ Sie sah ihn neugierig an.
Leo machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte. „Auskennen wäre übertrieben. Ich kenne nur das Prinzip, wie diese Geräte funktionieren. Wir machen hier Tests an Zellkulturen und an Bakterien, um mutagene Substanzen zu identifizieren!“
„Aber das trifft sich doch ausgezeichnet. Die Massenspektrometrie und die biologischen Tests ergänzen sich doch ganz wunderbar.“
Ihr spröder Eispanzer begann zu bröckeln. In ihren blauen Augen lag ein kleiner Funke der Begeisterung. Sie schien beinahe zu lächeln.
„Solche biologischen Tests haben wir an unserem Institut in Paris nicht aufgebaut. Und ein Massenspektrometer, genauer gesagt ein LC-MS/MS ist das, was ich für die Untersuchung meiner Proben auf Patulin dringend benötigt hätte.“
Leo war neugierig geworden. „Was hätten Sie damit gewonnen?“
„Die LC-MS/MS Technik eignet sich dazu, auch geringste Spuren von wasserlöslichen Substanzen wie Patulin in Proben nachzuweisen. Die LC-MS/MS wird für die Bestimmung von Pilzgiften, Arzneimitteln und anderen Stoffen in Lebensmitteln eingesetzt.“
Es klang, als hielte sie einen Vortrag vor Studenten.
„Und so ein Gerät haben Sie an Ihrer Uni in Paris also nicht?“
„Doch, das haben wir. Das steht sogar bei uns im Institut.“
„Aber warum? …“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Warten Sie doch lieber mit Ihrer Frage, bis ich meinen Vortrag gehalten habe, einverstanden?“
„Okay. Aber Sie machen mich wirklich neugierig.“
Inzwischen war es Mittag und sie gingen zusammen mit Bernadette in die Kantine des LEAG. Es war Sandrine anzumerken, dass sie mit dem Essensangebot nicht sehr glücklich war. Schließlich begann sie, sich etwas von der Salatbar zusammenzustellen.
Dass bei Franzosen die deutschen Kantinenschlager wie Wurstgulasch, Germknödel und Erbseneintopf nicht viel Begeisterung auslösen würden, hätte Christine Leo vorher sagen können. Aber Christine war für zwei Wochen für eine Reportage im französischsprachigen Teil Belgiens unterwegs. Daher konnte Leo ihr nur am Telefon erzählen, welchen Eindruck er von Sandrine Martin gewonnen hatte.
„Sie übernachtet bei dir?“
Aus Christines Stimme sprach eine Mischung aus Erstaunen und Ironie.
„Muss ich da etwas befürchten?“
Leo lachte. „Im Gegenteil. Ich müsste eher etwas befürchten, wenn sie den leisesten Eindruck hätte, als wollte ich etwas von ihr.“
„Würdest du denn gerne etwas von ihr wollen?“
„Wie kommst du denn jetzt auf so was? Sie scheint kompliziert zu sein und trägt eine Menge Sachen mit sich herum, glaube ich.“
„Das glaube ich auch. Als ich sie damals in Paris in der Uni aufgesucht habe, gab sie mir den Eindruck, als stünde vor mir ein gehetztes Wild. Vielleicht erzählt sie dir ja mehr davon, was ihr damals zugestoßen ist. So ein Veilchen am Auge kommt ja nicht von ungefähr.“
„Und wie läuft‘s bei dir?“
„Ich bin gerade in Huy , einem putzigen kleinen Ort nicht weit von Liège , Lüttich auf Deutsch. Von meinem Hotel aus sehe ich auf ein Atomkraftwerk mit riesigen Kühltürmen. Nicht einmal zwei Kilometer entfernt, direkt an der Maas gelegen. Das Ding überragt alles andere hier in der Gegend. Und weißt du, was das Schärfste ist?“
„Nein, sag es mir!“
„Du wirst staunen. Die Leute hier betrachten es als eine Sehenswürdigkeit. Es gibt Ansichtskarten davon, die im Zeitungsladen verkauft werden. Du hast die Wahl zwischen einer Tag- oder einer Nachtaufnahme. Welche soll ich dir schicken?“
„Die Nachtaufnahme! Die ist sicherlich noch gruseliger.“
10. Berlin-Dahlem, 5. November 1990
Sandrine Martins Vortrag fand um siebzehn Uhr statt. Wegen der geringen Beteiligung hatte man ihn kurzfristig in einen kleineren Seminarraum verlegt. Dass nur so wenige kamen, hatte sicherlich mit dem späten Termin zu tun, den Malus festgesetzt hatte. Vielleicht hatte er das sogar so beabsichtigt. Das Thema Pilzgifte in Lebensmitteln war nicht unverfänglich. Malus hatte schon vorher Leo gegenüber seine Bedenken dazu geäußert, die Interessen der Lebensmittelindustrie dürften nicht beschädigt werden.
Sandrine war nervös, als sie an das Rednerpult in dem kleinen Seminarraum trat. Leo saß am Projektor, um auf ihr Zeichen hin die entsprechenden Dias auf die Leinwand hinter Sandrine zu projizieren. Unter den fünfzehn Zuhörern waren aus der Fachgruppe neben Bernadette nur Bernhard Malus, Anke Barkowski-Gertenbauer und Ferdinand Prause anwesend.
Trotz ihrer Nervosität wirkte Sandrine sehr ruhig, als sie zu sprechen begann. Fast routiniert, als hätte sie bereits schon viele Vorträge gehalten, führte sie die Zuhörer in das Thema ein. Ihre aktuelle Doktorarbeit über Laktat nahm sie als Einstieg, um auf ihre Arbeiten zur Belastung von Apfelsaft, Cidre und Calvados mit Patulin zu kommen. Sie ergänzte diese Ausführungen mit Zahlen über die Häufigkeit von Speiseröhrenkrebs in der Normandie. Nachdem sie zum Ende gekommen war, bedankte sich Malus im Namen der Anwesenden und nutzte diese Gelegenheit sofort, um Sandrines Schlussfolgerungen kleinzureden.
„Ihre Arbeiten zum Laktat sehen ganz ordentlich aus, aber was den zweiten Teil ihres Vortrags betrifft ...“
Malus hatte sich betont langsam von seinem Stuhl erhoben. Er ließ sich Zeit, um seine Kritik zu formulieren. „Eigentlich fehlt Ihnen aber doch der Beweis, dass Ihre Proben tatsächlich Patulin enthalten.“
Leo drehte sich zu ihm um und bemerkte wie Prause, der neben Malus saß, höhnisch grinste.
„In Deutschland ist dieses Problem bei Apfelmost und Apfelschnaps nicht bekannt. Wieso sollte das bei Ihnen in Frankreich anders sein? Schließlich haben wir in der EU strenge Richtlinien und vorgegebene Grenzwerte.“
Malus setzte sich wieder und Ferdinand Prause grunzte zustimmend.
„Die vorläufigen Tests haben Hinweise auf erhöhten Gehalt an Patulin in einigen Proben gegeben“, erwiderte Sandrine.
„Und warum haben Sie, die, wie Sie sagen, vorläufigen Tests nicht bestätigt?“
Malus war wieder aufgestanden. Er betrachtete sie mit dem Ausdruck einer lauernden Katze, die jeden Moment zum Sprung ansetzen wollte.
„Es gab technische Schwierigkeiten mit dem LC-MS/MS Gerät!“
Malus konnte seinen Triumph nun nicht mehr verbergen.
„Schwierigkeiten sagen Sie! Und diese Schwierigkeiten waren so groß, dass Sie das Thema Ihrer Promotion auf Laktatgehalt in Rohwürsten wechseln mussten?“
Sandrines Blick fiel zuerst auf Malus, dann auf Leo. Sie trat einen Schritt vom Pult zurück und gab keine Antwort. Keiner der Anwesenden sagte etwas in diesem Moment.
Anke Barkowski war das Schweigen peinlich, das sich wie eine Lähmung unter den Versammelten ausbreitete. Sie verabscheute das Machogehabe ihrer männlichen Kollegen, zeigte das aber nicht offen. Aber Schneider tat auch nichts, um seinen Gast zu unterstützen. Etwas war ihr eingefallen, um die Situation zu entschärfen: „Am LEAG haben wir solche Untersuchungen an Obstbränden bisher aber auch noch nicht durchgeführt, oder?“
„Wohl deswegen, weil es dazu überhaupt keinen Anlass gibt“, gab Ferdinand Prause zur Antwort.
Mit dem Gespür eines Opportunisten nutzte er die Gegebenheit, um sich in den Vordergrund und in die Gunst seines Vorgesetzten Bernhard Malus zu spielen.
Читать дальше