Sie wehrte sich verzweifelt gegen das unerbittliche, unsichtbare Etwas, das ihr den Atem zu rauben versuchte. Aber obgleich sie heftig um sich schlug, konnte sie nichts dagegen ausrichten. Schließlich wurden ihre Glieder matt und sie konnte sich nicht mehr bewegen.
Ihre Lungen schienen dem Bersten nahe. Dann spürte sie nur noch den Druck der kalten Lippen auf ihrem Mund und das Wasser, das nun jeden Teil ihres Körpers umschloss und sie zu töten drohte.
Sie war am Ertrinken! Und das im eigenen Bett!
„Chloé!“
Auf einmal ging das Licht im Zimmer an und Chloé war mit einem Schlag von dem eisigen, tödlichen Kuss befreit. Röchelnd und würgend rollte sie sich auf die Seite.
„Was ist mit dir, Kleines?“, fragte Chloés Mutter angsterfüllt und setzte sich auf die Bettkante. „Ich habe Henri am Telefon, er meinte, du gehst nicht an dein Handy.“
Chloé konnte keine Antwort geben. Keuchend sog sie die Luft in sich auf, süßer, kostbarer Sauerstoff. Ihre Mutter nahm sie in die Arme und Chloé begann vor Erleichterung zu schluchzen.
Dann fiel ihr Blick auf den Fleck neben ihrem Bett. Sie erstarrte in fassungslosem Entsetzen. Auf dem teuren Ebenholz Parkett glänzte eine Wasserlache, mit dünnen Fäden von Seegras darin!
Ihre Mutter reichte ihr das Telefon, zwinkerte Chloé kurz zu und verließ das Zimmer. Chloé nahm den Hörer. „Ja?“, fragte sie zaghaft.
„Du klingst so merkwürdig. Was hast du?“, wollte Henri wissen.
Chloé verzog den Mund, was Henri an seinem Handy natürlich nicht sehen konnte. Wie sollte sie ihm diesen Alptraum erklären? Er würde sie für völlig verrückt halten. Sie hatte immer noch seine mitleidvollen Augen in Erinnerung, nachdem sie ihm von den unheimlichen Ereignissen in der Geisterbahn erzählte.
„Nichts habe ich“, erwiderte sie schnell.
„Muss ich mich für etwas entschuldigen? Mir fehlen in meiner Erinnerung der gestrigen Nacht ein paar Stunden. Cedric erzählte mir, dass du mich nach Hause gefahren hast.“
„Ja.“
„Habe ich sein Auto verschmutzt?“
„Nein.“
„Habe ich sonst etwas angestellt, dessen ich mich schämen sollte?“
„Kannst du dich nicht mehr erinnern?“
„Ich habe starke Kopfschmerzen, Liebes“, antwortete Henri und rieb sich seine Schläfen.
„Was sagt dir der Name Jennifer Scheele?“
„Ich glaube, sie war auch auf der Party, oder?“
„Ja.“
„Was ist mit ihr?“
„Du hast mit ihr getanzt!“, erklärte Chloé.
„Aha.“
„Und sie hat dir eine Menge Wodka eingeflößt.“
„Aha.“
„Dann hat sie dich in der Küche befummelt. Ich vermute mal, ihr habt geknutscht.“
„Oh je!“
„Du erinnerst dich wieder?“
„Nö.“
„Du warst ziemlich blau, Henri.“
„Ich habe das ganze Bad vollgekotzt. Cedric hat sich totgelacht, der Arsch.“
„Schimpf nicht über deinen Bruder, er hat dich ins Bett gebracht. Du warst mir zu schwer.“
„Ich weiß, dafür habe ich mich bereits bei ihm bedankt. Aber jetzt ärgert er mich ständig. Er hat eine Flasche Wodka an mein Bett gebracht und gefragt, ob ich durstig wäre!“
Jetzt musste Chloé lachen. Sie konnte Henri einfach nicht böse sein, so sehr sie sich dies auch vorgenommen hatte.
„Jetzt lachst du auch noch.“
„Das sollte dir eine Lehre sein.“
„Ich trinke nie wieder Alkohol in meinem Leben.“
„Ja, dieser Satz ist einer der meist gesagten der Männerwelt.“
„Ich lade dich auf eine Pizza bei Michele ein, okay?“
„Du glaubst, ich bin käuflich und vergebe dir dann?“
„Ne, aber ich habe Hunger.“
Chloé lachte erneut. „Okay, du zahlst und ich vergesse dein gestriges Verhalten.“
„Du bist doch käuflich.“
„Ne, nur hungrig.“
Jetzt konnte sich auch Henri nicht mehr zurückhalten und musste lachen.
„Wann könntest du dort sein?“
„In einer halben Stunde.“
„Okay! Bis gleich.“
Chloé beendete die Verbindung, legte ihr Handy zur Seite und betrachtete sich nachdenklich im Spiegel. War es richtig, Henri so schnell zu vergeben? Konnte man ein Fehlverhalten aufgrund Alkohols abmildern? Okay, er war eindeutig nicht zurechnungsfähig gewesen, aber sie hatte trotzdem ein flaues Gefühl im Magen. Es hatte ihr nicht gefallen, dass ein anderes Mädchen ihren Henri befummelte.
Als sie die Pizzeria Michele betrat, war Henri schon da. Er saß an einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters und sah ihr erwartungsvoll entgegen.
„Schön, dass du da bist! Ich hatte schon Angst, du würdest mich einige Tage mit deiner Abwesenheit bestrafen.“
„Das habe ich mir ernsthaft überlegt“, antwortete sie und blickte in seine unruhig flackernden Augen. Spätestens jetzt konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Sie beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
„Wie geht es meiner Rauschkugel?“, fragte sie leicht ironisch und wuschelte ihm durch die Haare.
„Nach der zweiten Tablette werden die Kopfschmerzen besser. Jetzt habe ich Hunger“, antwortete Henri. „Mein Bruder meinte, das wäre ein gutes Zeichen.“
Er rückte mit seinem Stuhl ein wenig näher, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Sie ertappte sich mehrmals dabei, dass sie ihn genau musterte. Jede Kleinigkeit, jeden Gesichtszug prägte sie sich ein, als wäre es das letzte Mal, dass sie ihn sah. Seine Nähe fühlte sich einfach richtig an. Es war unbeschreiblich schön, neben ihm zu sitzen und seine Stimme zu hören.
Kurz darauf kam der Kellner und sie bestellten eine Pizza aus dem Holzofen. Während sie auf ihr Essen wartete, stellte sie sich vor, wie es sich anfühlen würde, mit Henri zu schlafen. Schnell nahm sie einen Schluck Wasser. Woher kamen plötzlich diese Gedanken? Wenig später kam die Pizza, aber ihre erotischen Phantasien blieben. Sie spürte ein Kribbeln in ihrem gesamten Körper, das sich besonders warm und intensiv in ihrem Unterleib ausbreitete.
Nachdem sie fertig gegessen hatten, blickte sie Henri nachdenklich an.
„Warum sagst du nichts?“ Er stieß sie sanft an. „Chloé! Was hast du?“
Sie spürte, dass sie feuerrot wurde, und senkte den Kopf. Henri legte einen Arm um die Stuhllehne, streichelte mit seinen Fingerspitzen sanft ihren Rücken.
„Bist du noch böse auf mich, wegen gestern Nacht?“, erkundigte er sich zerknirscht.
„Nein, bestimmt nicht“, versicherte sie ihm schnell. „Ich habe an etwas anderes gedacht. Es ist meine Schuld. Was hast du eben gesagt?“
„Vergiss es! Es war nicht so wichtig. Erzähl mir lieber, woran du gedacht hast!“
Noch schlimmer, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie konnte ihm doch unmöglich sagen, dass sie sich in Gedanken mit Erotik und Sex beschäftigt hatte.
„Chloé! Ich liebe dich! Du kannst mir alles sagen. Was ist denn geschehen?“ Henri hatte immer noch Angst, er hätte etwas Falsches auf der gestrigen Party gemacht. Er konnte sich kaum noch erinnern, hatte zeitliche Lücken.
Entschlossen sah sie zu ihm auf. Seine braunen Augen blickten sie voller Wärme an. Schließlich hob Henri seine Hand und legte sie an ihre Wange. Mit dem Zeigefinger streichelte er sie zärtlich, ohne seinen Blick von ihren Augen abzuwenden. Wie gebannt ließ Chloé ihn gewähren.
Seine Finger wanderten zu ihren Lippen. Behutsam zeichnete er ihre Konturen nach. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Eine Weile schien die Welt um sie herum zu versinken. Seine Zärtlichkeit sagte mehr als tausend Worte.
Plötzlich lächelte er sie an. „Ich habe dich so lieb.“
Sie fühlte, dass ihr die Röte in die Wangen stieg, während ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Trotzdem erwiderte sie weiterhin seinen Blick. Henri zog ihren Kopf an seine Brust und streichelte durch ihr langes blauschwarzes Haar. Eine Weile blieb sie eng an ihn gekuschelt. Durch sein Poloshirt spürte sie die Wärme seines Körpers und die Hand, die immer noch ihr Haar streichelte.
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