„Was hat er denn getrunken?“
„Ich vermute mal Wodka, aber ich war nicht dabei“, antwortete Chloé.
„Wart ihr nicht gemeinsam auf der Party?“
„Doch, aber ich habe mit Anna und Lisa geratscht. Henri wollte sich etwas vom Büfett holen.“
„Davon wird man aber nicht so betrunken.“
„Stimmt, ich fand ihn eine Stunde später in der Küche. Henri lehnte betrunken am Kühlschrank und die blöde Jennifer Scheele überprüfte die Festigkeit seiner Muskeln.“
„Ähh ...“, meinte Cedric leicht stotternd. „Welche Muskeln?“
„Also bitte, Cedric!“, antwortete Chloé, musste jedoch über ihre eigene Wortwahl grinsen. „Sie befummelte seine Bauchmuskeln unter dem Hemd. Henri schien davon nichts mitbekommen zu haben, so betrunken war der.“
„Ob ihm das leidtut?“
Chloé funkelte ihn zornig an. „Sollten ihm die Berührungen einer Jennifer Scheele gefallen haben, bekommt er von mir ein Andenken verpasst, das er niemals wieder vergessen wird.“
Cedric musste lachen. Er mochte die Freundin seines Bruders, sie war ehrlich, direkt und offen.
„Hör auf zu lachen! Ich habe neunzig Kilogramm alkoholisierte Masse in deinem Auto liegen. Dein Bruder gehört ins Bett oder möchtest du, dass er deinen Wagen vollkotzt!“
Cedric erschrak. Nein, der Mageninhalt seines Bruders im Auto war das Letzte, das er sich wünschte. Er öffnete die Tür und schüttelte Henri, in der Hoffnung, er würde wach werden.
„Ist etwas geschehen?“, fragte eine weibliche Stimme von der Haustür. Cedric drehte sich um und strahlte das schlanke Mädchen an.
„Mein Bruder ist betrunken.“
„Henri?“, rief Laura, die Freundin von Cedric, verwundert aus.
„Ich habe es zuerst auch nicht glauben wollen. Aber es scheint wirklich geschehen zu sein.“
„Hallo, Chloé“, rief Laura, noch immer ungläubig über den Zustand von Henri. Chloé ging zur Haustür und begrüßte die Freundin von Cedric, die ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen war.
„Magst du einen Tee?“
„Ja, gerne“, antwortete Chloé.
„Bring du deinen Bruder ins Bett, Cedy“, meinte Laura. „Wir warten in der Küche.“
„Okay.“
Nachdem sie Henri in sein Zimmer gebracht hatten, fuhr Cedric sie nach Hause. Sie legte sich ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Es war ihr allerdings unmöglich, sich auf das Programm zu konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten unruhig zurück zur Party. Was war nur mit Henri gewesen? So kannte sie ihn nicht. Er trank normalerweise keinen Alkohol. Hatte er Probleme? War etwas geschehen, das er ihr nicht erzählte? Voller Unruhe schlief sie endlich ein.
In dieser Nacht hatte sie einen merkwürdigen Traum:
Sie zog sich gerade die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. Dann stieg sie in eine Kutsche und fuhr an die Küste eines unbekannten Meeres. Als sie an einer Brandungsmauer ausstieg, schlug ihr der heulende Wind das lange schwarze Haar ins Gesicht. Sie strich es sich aus der Stirn, stolperte über einen Felsbrocken, fing sich wieder und lief weiter.
Dieses fremde Meer war ein Hexenkessel aus schäumender Gischt, rollenden Brechern und gigantischen Wellen. Eine mächtige Woge brach sich an der Brandungsmauer und jagte eine zehn Meter hohe Salzwasserfontäne in die Luft. Der Wind pfiff und heulte wie ein völlig außer Kontrolle geratener Dampfkessel. Grelle Blitze zuckten über den Himmel und jeder dieser bizarren Lichtstreifen erhellte das menschenleere Ufer.
Als sie auf das offene Meer blickte, entdeckte sie in der Ferne ein Schiff, das gegen mächtige Wellen kämpfte.
In diesem Augenblick umfassten sie von hinten kräftige Arme. Chloé wand sich aus der Umklammerung heraus und schlug heftig um sich. Dann fuhr sie wütend herum und sah sich einem Mann gegenüber, dessen Gesicht mit der markanten Augen- und Kinnpartie ihr nur zu gut bekannt war.
„Lassen Sie mich los, John!“
„Es ist zu spät, Amanda. Das Schiff ist auf Grund gelaufen“, erklärte John Rivers.
„Nein!“, schrie sie, und drehte sich wieder zurück zum Meer. Das Schiff in der Ferne war deutlicher zu sehen. Riesige Wellen überspülten es und brachen sich am Überbau. Der Bug des Schiffes war bereits unter Wasser und es neigte sich schon stark nach Backbord.
Entsetzt beobachtete Chloé, wie einige Seeleute über Bord gefegt wurden.
„Nein!“, schrie sie erneut voller Panik. Sie drehte sich um und lief zu einem Lagerhaus.
Hinter sich hörte sie bestürzte Rufe: „Amanda! Wo willst du hin? Wir sind doch alle umgekommen. Komm zurück, Amanda!“
Hinter dem Lagerhaus fand Chloé ein Ruderboot. Ohne sich weiter um die warnenden Zurufe zu kümmern, schob sie es in das Wasser und ruderte in das offene Meer.
Innerhalb weniger Minuten waren so viele Wellen über das Boot geschlagen, dass Chloé bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Der Wind riss ihr die Kapuze fort und das Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Kopf.
Das Ruderboot wurde zurück an das Ufer geworfen. Sie wurde rückwärts herausgeschleudert und landete auf dem harten Strand. Schnell sprang sie wieder auf und stolperte in eine kleine sturmgepeitschte Bucht. Sie lief über die Dünen und kämpfte sich mit zusammengebissenen Zähnen durch Regen und Wind. In der Ferne sah sie das Segelschiff endgültig untergehen. Das Heck hob sich in einem letzten Aufbäumen, bevor das Schiff langsam zu sinken begann.
In diesem Augenblick entdeckte sie ihn. Er stand bis zur Taille im Wasser. Seine Seemannsjacke blähte sich im Wind, das rötlich braune Haar klebte ihm nass am Kopf.
„Simon“, rief sie voller Dankbarkeit. Dann kämpfte sie sich durch das Wasser zu ihm vor und warf sich in seine ausgebreiteten Arme. Sein Körper fühlte sich kalt an. Eiskalt!
Sie weinte vor Erleichterung. „Du hast es geschafft! Ich hatte so große Angst um dich.“
Simon Peel lächelte und nahm ihr Kinn in seine Hand, um ihr Gesicht anzuheben. Chloé erzitterte. Seine Fingerspitzen auf ihrer Haut waren kalt wie Eis.
„Du bist mein, Amanda. Ich werde dich nie freigeben. Nie! Aber unsere Zeit ist abgelaufen. Willst du mich begleiten, Geliebte?“
Chloé schloss die Augen und barg schluchzend den Kopf an seiner Schulter. Der Stoff seiner Jacke fühlte sich glitschig an, als wäre er voller Algen.
„Ja!“, beteuerte sie. „Ich werde dir überallhin folgen, aber lass mich nie mehr allein, Simon!“
„Dann küss mich“, forderte er leise aber eindringlich.
Chloé erschauerte unter dem Druck seiner Lippen. Sein Kuss war gleichzeitig sanft und erregend. Sie spürte, wie ihr ganzes Inneres auf die einfühlsamen Liebkosungen reagierte, wie sie von einer Woge des Glücks ergriffen wurde. Sehnsüchtig stöhnte sie auf.
In diesem Augenblick spürte sie, wie ihr ein dünnes Rinnsal Wasser in den Mund lief. Sie versuchte, ihre Lippen von Simon Peel zu lösen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Auch ihre Augen konnte sie nicht öffnen. Der raue Stoff der Seemannsjacke verwandelte sich plötzlich in schleimigen, fauligen Seetang.
Chloé wich angstvoll zurück, aber trotzdem spürte sie die eiskalten Lippen des Mannes noch immer auf ihrem Mund. Aus dem Rinnsal wurde ein starker Schwall Wasser. Entsetzt riss Chloé die Augen auf. Kaltes Meerwasser lief ihr die Kehle herunter und füllte in Windeseile ihre Lungen. Ihre Brust zog sich unwillkürlich zusammen und sie versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Aber vergebens, ringsum war nur Wasser. Kaltes, tödliches Wasser!
Wenige Zentimeter vor ihr trieb Simon. Sein Kopf hatte sich in einen Totenschädel verwandelt. Die Zähne grinsten sie an. Gemeinsam sanken ihre Körper immer tiefer und tiefer ...
Chloé schreckte aus dem Schlaf und fuhr hoch. Das Meer war verschwunden und sie lag in ihrem Bett. Plötzlich aber wurde ihr voller Panik bewusst, dass ihr Körper noch immer gegen das Wasser kämpfte. Ihre Lungen schienen ihren Brustkorb sprengen zu wollen. Nach wie vor spürte sie den Druck der kalten Lippen auf ihrem Mund und rang vergeblich nach Luft.
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