Henri legte beide Arme um sie, drückte sie noch einmal fest an sich.
„Möchtest du noch etwas trinken, oder wollen wir gehen?“, erkundigte er sich leise.
„Gehen“, flüsterte sie.
Sekundenlang spürte sie seine Lippen auf ihrem Haar, dann schob er sie behutsam von sich und winkte dem Kellner.
Chloé sah traumverloren zu, wie Henri die Rechnung beglich. Hand in Hand verließen sie die Pizzeria. Draußen war es schon dunkel. Henri hielt sie fest im Arm. Wie selbstverständlich passte sich ihr Schritt dem seinen an.
„Du bist mir wirklich nicht mehr böse wegen gestern Abend?“, fragte er leise nach. Chloé schüttelte nur den Kopf und genoss seine Nähe. „Es tut mir leid. Ich liebe dich, Chloé, mehr als ich es mit Worten ausdrücken kann.“
„Ich liebe dich auch, Henri. Es ist schön, dass es dich gibt.“
Er beugte sich langsam zu ihr hinab. Behutsam berührten seine Lippen ihren Mund. Sein Kuss war zunächst wie ein Hauch, zögernd, tastend und fragend, doch aus einem plötzlichen Impuls heraus verstärkte er den Druck seiner Lippen.
„Ich würde dich so gern ausgiebig küssen, wollen wir noch zu dir fahren?“, fragte Henri sichtlich erregt.
„Es geht heute nicht“, antwortete Chloé. „Wir haben Besuch und ich habe meiner Mutter versprochen, heute früher heim zukommen.“
„Morgen Nachmittag habe ich den Numerologie-Kurs, wir können uns erst danach sehen.“
„Dann gehe ich mit Anna und Lisa ins Freibad“, meinte Chloé.
Henri begleitete sie mit dem Fahrrad nach Hause. Sie unterhielten sich noch angeregt und lachten miteinander. Seine Nähe ließ sie vor Glück erschauern. In seine Stimme und in seine Augen hatte sie sich vom ersten Moment an verliebt. Jedes seiner Worte war wie ein sanftes Streicheln.
„Gern lass ich dich heute nicht gehen“, flüsterte er ihr ins Ohr, als sie das Haus ihrer Eltern erreichten.
„Ich würde auch gerne bei dir bleiben. Aber es geht heute nicht.“
„Bis morgen, Liebes. Viel Spaß im Freibad.“
Henri gab ihr noch einen Kuss, drückte noch einmal ihre Hand, und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Er brauchte dringend Schlaf.
Der heutige Tag sollte einer der heißesten im Jahr werden. Daher war Chloé dankbar, den Nachmittag im Germeringer Freibad zu verbringen. Die meiste Zeit plantschten sie im Schwimmbecken.
Anna hatte einen Wasserball mitgebracht. In einer Dreier-Anordnung warfen sie sich den Ball zu und versuchten, ihn direkt weiterzuspielen. Chloé strampelte mit den Beinen, um sich über Wasser zu halten, hechtete ein paarmal halbherzig nach dem Ball, während ihr die Anfeuerungsrufe und gequälten Aufschreie ihrer Freundinnen in den Ohren dröhnten.
Dann bekam sie plötzlich eine Gänsehaut an den Armen. Das Wasser war schlagartig kalt geworden. Chloé befiel ein Gefühl erstickender Enge.
Sie sah nach oben. Auf der Tribüne saß Simon Peel und lächelte zu ihr hinunter. Er trug erneut seine Seemannsjacke und lehnte lässig mit angezogenem Knie an der Wand.
Hallo, Amanda.
Chloé packte entsetzt ihre Freundin Anna an der Schulter, die gerade an ihr vorbeischwamm. „Dort oben sitzt ein merkwürdiger Mann und beobachtet mich“, flüsterte sie aufgeregt. „Da oben, schau!“
Anna hob den Kopf und auch Chloé sah erneut nach oben. Eine Welle der Angst jagte durch ihren Körper.
Die Tribüne war leer!
„Wo sollte jemand sein?“, fragte Anna unsicher.
Chloé konnte sich nicht vom Anblick der leeren Tribüne losreißen und so übersah sie den Ball, der direkt hinter ihr aufschlug. Lisa stöhnte gequält auf. Chloé schwamm zum Ball, wandte sich herum und holte zum Wurf aus.
Amanda!
In Chloés Kopf begann es sich zu drehen. Ihre Glieder wurden matt und ihre Augen weiteten sich voller Entsetzen.
Simon Peel stand bis zu den Hüften im Wasser, in den Händen hielt er ein längeres Stück Holz. Er sah sie mit leuchtenden Augen an.
Komm zu mir, Amanda, komm. Komm ...
„Nein!“, schrie Chloé zitternd. „Nein!“
Ihre beiden Freundinnen blickten sie verwundert an, ein hektisches Stimmengewirr erklang. Warum schrie Chloé so laut?
Plötzlich geschah es!
Chloé spürte, wie zwei Hände ihre Taille umfassten. Es waren kalte, leblose Hände. Dann wurde sie von einer unwiderstehlichen Kraft nach unten gezogen. Instinktiv hielt sie die Luft an, als sie untertauchte. Sie sank tiefer und tiefer, bis der Druck des Wassers in ihrem Kopf ein schmerzhaftes Dröhnen auslöste. In der Dunkelheit war es Chloé unmöglich, irgendetwas zu sehen, sie spürte lediglich die Umklammerung eines eisigen Armes um ihre Taille und dann den gnadenlosen Griff wachsgleicher Finger an ihrem Kinn.
Küss mich, Geliebte. Küss mich, Amanda.
Die Berührung der kalten, unsichtbaren Lippen verursachte in ihr ein solches Gefühl des Ekels, dass sie sich fast übergeben musste. Plötzlich drang Wasser in ihren Mund. Sie rang nach Luft, als es sich einen Weg durch ihre Kehle bahnte. Ihr Herz schien plötzlich bersten zu wollen und ihre Lungen schmerzten so heftig, dass sie fast die Besinnung verlor.
Wie eine Wilde kämpfte sie darum, an die Oberfläche zu gelangen. Aber es war unmöglich. Ringsum war nichts als Wasser. Das kalte, unbarmherzige Wasser, das ihre Lungen anfüllte und in ihre Adern zu dringen schien, als wolle es jeden Funken Leben aus ihrem Körper spülen.
Dann hörte Chloé auf, sich zu wehren. Ihre Glieder wollten ihr einfach nicht mehr gehorchen. Das Einzige, was sie schließlich noch fühlen konnte, war der eisige Druck der Lippen auf ihrem Mund. Sie war eins mit dem Wasser in einem zeitlosen, unbegrenzten Raum. Das Gefühl des Kusses verblasste zur Erinnerung. Wenig später verlosch auch diese Erinnerung und Chloé versank im Nichts.
Am Rand des Universums zeigte sich ein schmaler, aber doch gleißend heller Lichtstreifen. Dann setzten die Schmerzen ein, unerträgliche Schmerzen. Sie würgte und musste sich erbrechen.
„So ist es gut, Chloé. Noch mal! Spuck alles aus!“
Nach und nach erwachten ihre Sinne wieder zum Leben. Sie roch Chlor. Ihre Glieder kamen ihr schwer vor. Die Fliesen des Freibads fühlten sich kühl und feucht an. Sie hatte einen unangenehmen Geschmack von Chlorwasser und Erbrochenem im Mund.
Schließlich schlug sie die Augen auf und stellte fest, dass sie bäuchlings auf dem Boden lag, umringt von ihren besorgt auf sie hinunterblickenden Freundinnen. Neben ihrer Schulter entdeckte sie die muskulösen Waden eines Mannes. Als sie ihren Kopf etwas zur Seite drehte, erkannte sie den Bademeister. Dann spürte sie, wie er mit seinen großen Händen gleichmäßig zwischen ihre Schulterblätter drückte.
Chloé musste husten und Wasser quoll ihr aus Mund und Nase. Keuchend rang sie nach Luft.
„So ist es gut. Atmen Sie, junge Frau. Kommen Sie, nicht nachlassen!“
„Wird sie es schaffen?“, fragte Lisa ängstlich.
„Ja, sicher“, antwortete der Bademeister und half Chloé, sich auf den Rücken zu drehen. „Ich habe euch Mädchen schon hundertmal gesagt, ihr sollt im Schwimmbecken keinen Unsinn treiben. Jetzt seht ihr mal, was dabei passieren kann! Lasst euch das eine Lehre sein!“
Chloé blinzelte und legte zum Schutz gegen das blendende Licht den Arm über ihre Stirn. Langsam blickte sie sich im Kreis ihrer Freundinnen um, wobei sie alle Mühe hatte, nicht erneut das Bewusstsein zu verlieren.
Henri ließ es sich nicht nehmen, Chloé am späten Abend nach Hause zu bringen. Sie waren gemeinsam im Kino gewesen und hatten sich den Film „Seelen“ angesehen. Manchmal kam sich Henri auch so vor, als hätte eine fremde Macht seinen Körper übernommen.
Dann blickte er wieder zu Chloé. Ihre Augen blickten sorgenvoll, etwas stimmte nicht. Noch immer spürte er seine gewaltige Furcht, als er erfahren hatte, dass sie fast im Freibad ertrunken wäre. Sie konnte oder wollte ihm nicht sagen, was genau geschehen war. Chloé beruhigte ihn den ganzen Abend mit fadenscheinigen Erklärungen, aber er spürte, dass sie nicht die volle Wahrheit sagte. Aber warum? Vertraute sie ihm nicht mehr?
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