Ich möchte dies selbst wirklich nicht als größte Katastrophe meines Lebens betrachten, aber an manchen Tagen fällt es mir schwer mir nicht zu wünschen, ich wäre an diesem Abend einfach alleine in meinem Zimmer geblieben und hätte mich mit Yogi-Tee und Schokolade getröstet. Vielleicht hätte ich es dann tatsächlich nach New York geschafft, vielleicht hätte ich mir den Traum von der erfolgreichen Hotelmanagerin oder Barbesitzerin erfüllt. Vielleicht. Ich werde es nie wissen.
Alexander allerdings ist da in seiner Gedankenfolge viel konsequenter. Wenn ich ihm mit solchen Überlegungen komme, macht er kurzen Prozess mit mir. Er fragt mich dann: „Liebst du mich?“ und ich antworte „Ja“ weil das stimmt.
Und er fragt, ob ich mein Leben lieber an der Seite eines anderen Mannes verbracht hätte und ich antworte „Nein“ weil ich mir das gar nicht vorstellen kann. Noch nie habe ich mich so sicher, so beschützt, so gut aufgehoben und so ganzheitlich geliebt gefühlt. Und dann kommt sein logisches Finale, wenn er mich direkt ansieht und voller Überzeugung spricht: „Wenn du Leandra nicht bekommen hättest, wärst du nicht in die WG mit Biene gezogen und du hättest nicht im „Shrimps, Cocktails & more“ gearbeitet und wir wären uns nie begegnet.“
Diskussion beendet. Weitere Fragen?
Danach nimmt er mich immer in die Arme und streichelt mein Haar, wie man es bei einem kleinen Baby tut. Und dafür liebe ich Alexander. Weil er mir als Einziger immer wieder das Gefühl gibt, alles richtig gemacht zu haben. Mehr kann man für mich nicht tun.
Caro sah mich weiterhin an und schüttelte den Kopf.
„Warum probierst du’s nicht echt einmal?“
„Was?“
„Positiv denken!“
„Hm. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich dann am Ende enttäuscht bin. Wenn ich immer vom Schlimmsten ausgehe bin ich dann positiv überrascht, wenn doch mal etwas klappt. Ist sicherer für mich, verstehst du?“
Caro nickte. Sie verstand. Erstaunlich.
„Aber jetzt mal ehrlich? Ist bei euch in der Beziehung wirklich alles in Ordnung?“
Einen kurzen Moment dachte ich nach und sah Alexander und mich und die Kinder.
„Ja, im Großen und Ganzen schon.“
„Was ist das Große und Ganze?“
„Das Große ist das Leben im Allgemeinen, die Gesundheit, das Finanzielle und das Ganze ist die Familie, die Kinder.“
„Und ihr beide als Paar?“
„Das sind wir.“
„Nein. Ich meine all das an euch, wenn du die Kinder, den Alltagskram, den Job, das Finanzielle wegtust. Wer seid ihr? Was bleibt von euch übrig, wenn du die ganzen hard facts wegtust.“
Ich überlegte eine Weile hin und her. Nur mehr knappe zehn Minuten bis zu meiner Schlafens-Deadline. Wenn man alles, was unser Leben ausmachte, wegrechnete – was war da?
„Unsere gemeinsamen gemütlichen Abende. Unsere Gespräche. Und natürlich der Sex.“ Ich nickte. Caro nickte. Ich war zufrieden, denn ich hatte wohl begriffen, was sie wirklich wissen wollte.
„Gemeinsame Freunde?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Gemeinsame Hobbies?“ Caro fing meinen fragenden Blick ein und fügte schnell hinzu „Kinder nicht eingerechnet“. Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Sex?“ Ich nickte.
„Wieviel?“
„Wieviel? Du meinst wie oft?“ Caro bejahte.
„Hm. Naja. Deinen Ansprüchen werden wir da nicht gerecht. Aber wir haben auch drei Kinder! Da läuft es anders als vorher. Glaube mir: Kinder saugen dich aus. Abends bist du total fertig und einfach nur froh, wenn du mit niemandem mehr reden musst oder einfach nur regungslos im Bett liegen darfst.“
Caro sah mich resignierend an.
„Weißt du Anna, ich habe noch bei niemandem so hautnah miterlebt, dass er unter seinen eigenen Kindern so leidet. Wenn ich mir deine Stories länger anhöre, dann werde ich garantiert nie Kinder wollen.“
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und setzte eine gespielt beleidigte Miene auf.
„Naja. Jetzt übertreibst du. Du weißt ich liebe meine Kinder, aber du kennst sie auch schon und jetzt sage mir Hand-aufs-Herz, dass die nicht echt auch manchmal echt, echt mühsam sind!“
Caro nickte. Ja, sie hatte schon ein paar von Valentins Wutkrämpfen, eine Handvoll nicht zu bremsende Redeschwalle von Benedikt und mindestens zwei gröbere Zickereien von Leandra hautnah miterlebt.
„Caro, eines kann ich dir garantieren: Mütter, die dir sagen, mit Kindern ist es immer das Schönste auf Erden, die sind A. erst seit zwei Stunden Mutter und vollgepumpt mit Glückshormonen oder B. Lügnerinnen. Was anderes gibt es nicht!“ Caro nickte wieder und nahm einen nachdenklichen Schluck von ihrem Mochito.
Obwohl Caro und ich uns erst seit drei Wochen kannten, waren wir uns irgendwie sehr nah. Ein Außenstehender hätte vielleicht nicht vermutet, dass wir es gut meinten miteinander, doch ich war mir sicher. Die Direktheit unserer Gespräche gab mir Sicherheit. Ich bin der Meinung, dass die Menschen, die dir ihre Meinung auch unverblümt ins Gesicht sagen, in Wahrheit die besseren Freunde sind. Sie haben offenbar weniger Angst. Dich zu verlieren. Dich zu enttäuschen. Dich zu verletzen.
Wo Alkohol ein schlechter Ratgeber ist, ist Angst der schlimmste Begleiter überhaupt. Ich muss es wissen. Hatte ich doch selbst jahrelang Angst aufzufliegen. Ich – die Lüge schlechthin.
Ich mag Menschen mit Abgründen und am liebsten ist es mir, wenn sie sie mir gleich anvertrauen. Da fühle ich mich wohl. Da kann ich auch so sein wie ich wirklich bin. Gut und schlecht. Nett und böse. Fehlerhaft. Imperfekt. Manchmal – wenn das Thema passt – mag ich es sogar die Menschen zu schocken, wenn ich ihnen relativ unerwartet berichte, dass ich ein „Kuckuckskind“ bin. Es ist immer sehr interessant zu sehen, wie die Leute reagieren. Die Palette der Reaktionen ist groß. Am Schlimmsten sind die, die kurz entsetzt dreinschauen und dann das Thema wechseln. So, als hätte ich nichts gesagt. Das ist doch das Ärgste! Meist blinzeln sie dabei, um das Gesagte schnell wegzuradieren. Mit solchen Leuten reichen meine Konversationen nur mehr zum Erfragen der Information, wo sich denn die Toilette befindet.
Andere wiederrum versuchen es auf die ganz höfliche Art. Sie schauen einen mitfühlend an und sagen dann Dinge wie „Das tut mir leid.“ und warten dann unsicher, ob du noch was dazu sagst. Einmal fragte ich nach: „Was tut ihnen leid?“ Mein armes Gegenüber hat sich dann extrem unbeholfen in eine totale Sackgasse geredet mit „Naja. Dass sie ein Kuckuckskind sind.“
„Aber warum tut das ihnen leid?“ habe ich nachgefragt.
„Naja. Weil das wahrscheinlich ein schweres Schicksal ist, nehme ich an.“
„Warum nehmen sie das an?“
Wenn Alexander mitbekommt, dass ich die Nummer abziehe, boxt er mir in die Rippen und zerrt mich weg. Er findet das total unfair. Ist es ja auch. Aber warum darf ich da drüber nicht auch mal lachen dürfen? Konnte ich jahrelang nicht und ich bin der Meinung, dass es mir zusteht, das nachzuholen.
Caro bestand den Test sofort. Sie sah mich interessiert an, zog die Augenbrauen hoch, nickte anerkennend und sagte: „Cool.“
Das ist doch mal eine gute Reaktion. Ich bin ein Kuckuckskind. Nicht krank.
Vor Frauen, die immer nur lächeln und ihr Sonntagsgesicht zeigen, habe ich Angst. Menschen, die alles überspielen. Die mit dem perfekt antrainierten „Alles wird gut“ Gesicht. Die sich immer sicher sind, dass alles gut gehen wird, dass sie alles schaffen können. Das ist mir wirklich unheimlich. So war mein Papa. Gut, er ist ein Mann und hat wohl gelernt so zu sein. Doch damals, Jahre nachdem unsere Familienlüge aufgeflogen ist, hat er einmal geweint. Vor mir. Ich habe es genau gesehen. Als er Leandra in seinem Arm hielt und uns am Spielplatz in Wien besucht hat. Ich sah die Tränen über sein Gesicht laufen und er sah mich an und flüsterte ein leises „Entschuldigung!“
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