So habe ich damals für dieses Rechenbeispiel einfach die Blutspende-Ausweise meiner Eltern in den Biologie-Unterricht mitgenommen. Ich weiß, dass meine Mutter sie nicht, wie die meisten Menschen im Geldtascherl herumträgt, sondern im Wohnzimmer bei den Dokumenten aufbewahrt. Gefragt habe ich sie damals nicht. Ich dachte ja nicht, dass es irgendwie von Bedeutung wäre.
Ich erinnere mich heute noch an den verwirrten Blick meines Lehrers, als ich ihn fragte, warum sich das bei uns mit den Blutgruppen nicht „ausgeht“. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich wieder mal etwas falsch gemacht hatte – keine Besonderheit bei mir. Doch mein Biologie-Lehrer wurde immer ruhiger, sah sich die Blutspendeausweise meiner Eltern genau an, kontrollierte die Namen, drehte sie hin und her und nahm dann wieder meinen Impfpass in die Hand. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf und wechselte das Thema. Nach dem Unterricht rief er mich dann zu sich, als er sah, dass die Anderen schon die Klasse verließen.
Etwas dümmlich stand ich vor ihm und hatte keinen blassen Schimmer was los war. Er fragte mich noch einmal ganz ruhig, ob ich denn sicher sei, dass ich die richtigen Blutspendeausweise und meinen eigenen Impfpass mitgenommen hatte. Ich nickte. Konnte ich doch schon meinen eigenen Namen lesen. Was für eine dumme Frage! Und dann sagte er: „Vielleicht redest du mal in Ruhe mit deiner Mutter?“ Ich nickte. Ja, und? Er fuhr fort: „Es kann ja sein, dass hier irgendwas falsch vermerkt wurde. So was kann durchaus passieren.“ Er sah mich mitfühlend an. Und dann sagte er den Satz, den ich selten aus dem Munde einer meiner Lehrer hörte: „Du hast alles richtig gemacht. Die Rechnung ist korrekt. Wenn beide deine Eltern die Blutgruppe A haben, kannst du unmöglich AB haben.“ Stille. Und ich kapierte noch immer nichts.
Er gab mir den Rat, mit meiner Mama alleine zu reden. Was ich tat. Denn ich vertraue oft darauf, dass es die Anderen besser wissen als ich. Schon als ich die Blutspendeausweise auf den Tisch legte, wurde meine Mutter nervös. Als ich dann noch meinen Impfausweis dazulegte, wurde sie still und schloss die Küchentüre. Was danach passierte, ist heute noch eine für mich sehr unangenehme Erinnerung, die ganz eigenartige Gefühle in mir weckt und ich aus diesem Grunde lieber verdränge. Meine Mutter offenbarte mir, dass ich ein Kuckuckskind bin.
Natürlich verwendete sie diesen Ausdruck nicht. Den habe ich erst später im Internet gefunden. Ich bin ein Kuckucksei und wurde in ein fremdes Nest gelegt. Kein netter Gedanke. Ich bin das Ergebnis eines Seitensprungs und mein Papa ist nicht mein Vater. Zu Beginn begriff ich überhaupt nicht, was meine Mutter da schwafelte. Ich dachte einfach sie spinnt. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Und das Schlimmste war: sie bat mich mit ihr zu lügen. Ich musste lügen über – mich! Mein Papa wusste damals nicht, dass ich ihm untergeschoben wurde. Und damit unsere Familie nicht zerbrechen würde, flehte meine Mutter mich an, nichts zu sagen. Wie ungeheuerlich! Sie versicherte mir, dass sie mich genauso liebte, wie meine Geschwister, obwohl ich daran nicht wirklich gezweifelt hatte. Ich war mehr darüber schockiert, dass ich mein bisheriges Leben lang angelogen wurde und mein Papa, der es plötzlich nicht mehr war, ebenso. Um sechzehn Uhr hatte ich noch einen Vater und fünf Minuten später war er weg! Wie konnte das nur sein?
Seitdem weiß ich, dass es manchmal sehr schön sein kann, sich in Unwissenheit zu wiegen. Denn die Wahrheit kann unheimlich wehtun. Und deswegen schürfe ich manchmal auch nicht zu tief. Ich fiel in ein tiefes Loch. Ich war total verstört und musste so tun, als wäre alles in Ordnung. So gerne hätte ich darüber geredet und durfte es nicht. Meine Mutter steckte mir Geld zu und vereinbarte einen Termin bei einer Psychologin. Was auch nicht viel brachte. Denn diese bestätigte mir, dass dieses versteckte Geheimnis mich immer belasten würde. Dankeschön! Das hätte ich auch selbst herausgefunden. Die Psychologin rief nach der ersten Sitzung meine Mutter an, die meine nächste Sitzung stornierte, die eigentlich ihre eigene hätte sein sollen.
So blieb mir nur das Internet zum Reden. Da war ich anonym und fand viele Leidensgenossen. Es gibt einige Homepages über Kuckuckskinder und es tat gut sich so Einiges von der Seele zu schreiben. Viel besser wurde es nicht, aber es brachte mir zumindest eine gewisse Erleichterung. Auch das Verhältnis zu meinen Geschwistern verschlechterte sich. War ich doch keine mehr von ihnen. Sie wussten davon auch nichts und verstanden mein eigenartiges Verhalten nicht. Doch ihr Unverständnis war mein geringstes Problem. Meine Schulnoten litten mehr als sie es vorher taten und einzig der gequälte Blick meiner Mutter hielt mich zurück etwas zu sagen.
War jetzt schon mein Leben zerstört, musste ich ja nicht ihres auch noch absichtlich kaputt machen. Oder? Alexander nimmt es meiner Mutter bis heute übel, dass sie mich da mit reingezogen hat. Als ich ihm meine Geschichte erzählte, war er einzig über die Entscheidung meiner Mutter entsetzt. Doch damals waren schon viele Jahre vergangen und zum damaligen Zeitpunkt wusste es sogar mein Vater schon. Wie er es herausgefunden hat, weiß ich bis heute nicht. Ich will es ehrlich gesagt auch nicht wissen.
Den Zeitpunkt, die Bombe platzen zu lassen, hatte mein Papa etwas eigenartig gewählt. Ich nenne ihn lieber Papa, denn das war er ja immer für mich. Vater klingt eher biologisch und stimmt deswegen ja nicht mehr. Nachdem ich am Vormittag die offizielle Sponsion an meiner Fachhochschule hatte, zu der auch meine Eltern und meine jüngere Schwester mit ihrem Freund gekommen waren, aßen wir mit meinen Lieblingsverwandten, dem Cousin meines Papas und seiner Familie in einem schönen Restaurant zu Mittag. Es war herrliches Wetter und ich war richtig glücklich. Endlich hatte ich irgendwas geschafft und die Wünsche meiner Eltern, vor allem die meines unechten Vaters, erfüllt. Er ist Anwalt und träumte immer davon, dass wir alle Akademiker sein würden. Ein Mag. (FH) war immerhin ein guter Anfang. Von meiner Berufswahl war er zwar nie begeistert, aber zumindest war es eine Fachhochschule und damit noch eine höhere Bildung, die ich an das Gymnasium, das ich mit allergrößten Mühen beendet hatte, angeschlossen hatte.
Es hätte ein wirklich schöner Tag sein sollen. Meine Mama hatte mir für dieses Datum eine ordentliche Stange Geld überwiesen und ich mir ein umwerfendes Kleid in einer exklusiven Boutique in Wien gekauft. Am Tag zuvor war ich beim Friseur gewesen und wenige Tage vorher frische Gelnägel machen lassen. Ich fühlte mich schön und ansatzweise klug – obwohl das nie mein höchster Anspruch an mich selbst gewesen war. Meine Schwester war da und freute sich mit mir. Sie kannte das Geheimnis um mich nicht, aber sie war erleichtert, dass das schwarze Schaf in der Familie – ich – es auch endlich zu etwas gebracht hatte. Nicht erst einmal war ich das Streitthema zwischen meinen Eltern gewesen.
„Du verwöhnst sie zu sehr!“ hatte mein Papa oft wütend gerufen, wenn meine Mama zum wiederholten Male mein Scheitern auf verschiedenen Ebenen verteidigte. „Sie kann genauso viel leisten, wie die anderen!“ „Sie muss lernen, dass man sich eben mehr anstrengen muss.“ Ich wusste warum meine Mutter mich mit aller Kraft verteidigte und auch, warum mein Papa davon ausging, dass ich genauso viel Ehrgeiz besitzen musste, wie er. War ich doch sein Kind! Für ihn. Leider nicht mehr für mich.
Ich bemerkte nicht, dass er sich seit der Ankunft in Wien eigenartig benahm und meine Mutter wirkte wie ein geprügelter Hund. Zu sehr war ich damit beschäftigt mich an den Gedanken zu gewöhnen, etwas Tolles geschafft und vier Jahre „Uni“ hinter mich gebracht zu haben. Alle meine Kollegen und ich genossen das Gefühl die ewige Lernerei endlich an den Haken zu hängen und Pläne für die Zukunft schmieden zu können. Meine Vision war klar. Ich wollte weg. Ab ins Ausland. Die Welt erobern! In Gedanken formulierte ich Lebensläufe und ging Bewerbungsgespräche in meinem Kopf durch. Ich dachte über mögliche Outfits nach und womit ich meine zukünftigen Arbeitgeber beeindrucken konnte. Paris oder New York! Das war mein Traum! Großstadt, ich komme!
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