Heute ist mein Körper da etwas unbarmherziger. Jetzt macht er mit mir, was er will und nicht umgekehrt. Wille hin oder her. Ab dreiundzwanzig Uhr fahren bei mir sämtliche Wachzustand-erhaltenden Körperfunktionen runter und um 23.30 ist Sperrstunde. Mein Augenlieder klappen zu, der Kopf fällt in den Nacken oder nach vorne, je nachdem welche Neigung er im Moment vor dem Sekundenschlaf hatte, mein Mund öffnet sich und ich beginne zu schnarchen. Sagt zumindest meine bessere Hälfte. Ob ich ihm glauben soll?
Das ist der Grund, warum ich Silvester seit mehr als vier Jahren verpasse. Nicht mal die Knallerei um Mitternacht weckt mich mehr auf. Ich schlafe wie eine Tote, sagt Alexander. Wahrscheinlich hat er Recht. Aber darüber bin ich froh. Gibt ja auch nichts zu verpassen in der Nacht. Außer der Dunkelheit und meinen Kindern, die entweder schlecht träumten oder einfach nur zum zehnten Mal aufs Klo müssen. Beides keine Highlights in meinem Leben.
Außerdem muss man bei uns vor 23.30 Uhr im Bett sein, denn um diese Zeit setzt meist die große Nachtwanderung ein. Zwei kleine Trippel-Trappel-Füße marschieren in unser Schlafzimmer und Schwupp – ins Bett. Wenige Minuten später wieder Trippel-Trappel. Nochmal ein Paar kleine Kinderfüße und Hopp – auch im Bett. Wenn dann Nummer drei im Anflug ist, muss einer von uns raus. So viel Gekuschel wird mir echt zu viel und mehr als vier Menschen haben in einem gewöhnlich dimensionierten Ehebett, das ja grundsätzlich nur für zwei normal beleibte Erwachsene gemacht ist, einfach nicht Platz. Auch wenn zwei davon gerade mal über und unter einem Meter hoch sind.
Früher machte ich hin und wieder den Fehler bis spätabends zu bügeln – bin ich irre? – und siehe da – das Bett war voll. Käse!
Den Letzten beißen die Hunde – oder besser gesagt: der Letzte schläft auf der Couch.
Mit den Jahren wurde ich klüger und habe das Bügeln, soweit es mir irgend möglich ist, eingestellt.
Caro und ich hatten uns an diesem Abend entschlossen wieder mal „rauszukommen“. Der Ausdruck „rauskommen“ war aber wirklich hoch gegriffen, hatten wir uns doch nur für zehn Minuten in mein Auto gesetzt und waren geradewegs in die nächste Ortschaft gefahren. Die Richtung war klar, denn es gibt nur eine. Kleinberg liegt am Ende des Kleinbergtales und hinter der Ortschaft befindet sich nur mehr ein kleiner, hübscher See und viele steile Wände, die zu ziemlich hohen Bergen gehören.
Einstweilen bin ich sicher, dass man als Bewohner von Kleinberg tatsächlich hier geboren sein muss, um das alles zu lieben. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft konnte ich meine Gefühle nicht ganz eindeutig benennen, doch mit der Zeit wurde mir immer klarer, was mich emotional einengte. Egal wohin man sieht, nach spätestens einigen Hundert Metern ist Schluss mit freier Sicht und man muss den Kopf weit in den Nacken legen, um zu sehen, wo die Luft zum Atmen bleibt. Da ich niemals zuvor in einem so kleinen Nest gelebt hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass mir so ein liebliches, idyllisches Örtchen ziemlich bald auf den Wecker fallen würde.
Ich tappe in meinem Leben ja regelmäßig im Dunkeln, doch seit gut fünfzehn Jahren ist mir klar: worauf ich mich immer wieder verlassen kann, ist meine Naivität. Als Alexander mir sagte, wir würden nach Kleinberg ziehen, war ich nicht aus dem Häuschen, aber niemals ahnte ich, dass ich geradewegs in mein Unglück ritt.
Alexander ist mein Mann und der größte Goldschatz aller Zeiten. Er ist ein positiver Mensch und schafft es immer mich mit seiner Begeisterung anzustecken. Da uns außerdem gar nichts anderes übrig blieb, als nach Kleinberg zu ziehen, gab er sich die größte Mühe mir seine „alte“ Heimat schmackhaft zu machen. Er erzählte mir immer wieder lustige Geschichten aus seiner Kindheit und wie toll es für die Kinder werden würde, hier aufzuwachsen. Die Natur, die Berge. Ja, die Berge! Oftmals habe ich das Gefühl, irgendwer steht hinter mir und rückt mir unangenehm auf die Pelle, doch wenn ich mich umdrehe, um ihm zu sagen, er soll gefälligst die Fliege machen, ist es wieder nur so ein Berg, der seit Ewigkeiten dasteht und mir die Sonne nimmt, genau wenn ich mich in den Liegestuhl lege um mir eine großzügige und ungesunde Portion UV-Strahlen zu gönnen.
Nein. Heute nach zwei Jahren bin ich schlauer. Ich bin kein Gebirgsmensch und kein Kleinberger. Zumindest etwas, das ich weiß. Und was mir, wie so manche Weisheit, die ich schon besitze, wenig bringt. Denn wir müssen bleiben. Alexanders Vater ist nämlich krank. Er hat seit gut zwei Jahren Alzheimer. Und weil Alexanders Eltern hier im Dorf eine Ferienappartementvermietung und den örtlichen Supermarkt besitzen, ereilte meinen Mann vor exakt siebenundzwanzig Monaten die Bitte seiner Mutter, sie doch „wenn du so lieb wärst“ zu unterstützen. Und Alexander wäre nicht mein Alexander, wenn er nicht völlig selbstverständlich mit mir, seiner Frau und unseren drei etwas zu lebendig geratenen Kindern mit Sack und Pack zum ehestmöglichen Zeitpunkt übersiedelt wäre.
Und welche Ansprüche hätte ich stellen können? Ihm verbieten seiner Familie zu helfen? So irre bin ja nicht einmal ich. Ich verdanke Alexander viel und da ich mich zum damaligen Zeitpunkt wieder oder besser gesagt noch immer in Karenz befand, gab es keinen plausiblen, von erwachsenen Menschen als akzeptabel anzusehenden Grund Wien nicht verlassen zu können. Natürlich waren da meine Freunde und ja, es ist die Großstadt, wo ich bis jetzt am liebsten zu Hause war, aber Alexander ist mein Leben und meine Liebe. Er ist derjenige, der mir eine Familie bot, als ich sie am dringendsten benötigte. Wie hätte ich jemals auch nur einen Zweifel daran äußern dürfen der Familie – dem obersten Gut überhaupt – eine Bitte abzuschlagen?
Auch Alexanders Vater kann man keinen Vorwurf machen – er selbst hasst seine Krankheit am allermeisten. Er tut mir leid und trotzdem kann niemand etwas für ihn tun. Verglichen mit ihm, habe ich es natürlich gut erwischt. Auf der anderen Seite: ich bin ja auch erst dreiunddreißig. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es um mich steht, wenn ich mal so alt bin wie er.
Genau betrachtet ist er sogar der Kleinberger, der mir am sympathischsten ist – nach meinem Mann natürlich. Erstens ist er mein Schwiegervater und ein wirklich netter Mensch. Und zweitens ist er der Einzige, der auch mal schräge und einmalige Aktionen liefert, wie zum Beispiel erst vor wenigen Wochen, als er mitten im Januar begann den Swimming Pool mit Wasser zu füllen. Leider aber darf ich mich öffentlich nicht über ihn amüsieren; nicht erst einmal hat mich meine Schwiegermutter mit ihrem eisigen Blick gestraft, als ich lauthals lachte, weil er zum wiederholten Mal ohne Hose auf die Straße ging.
Ganz ehrlich: ich verstehe das wirklich nicht ganz. Wir alle wissen, dass seine Krankheit sich ab jetzt nur mehr verschlechtert und es keine Heilung gibt. Das ist an sich ja wirklich traurig und bedrückend. Aber warum darf man dann nicht mal lachen, wenn es was zu lachen gibt? Ich kenne die Antwort: meine Schwiegermutter denkt, dass wenn ich lache, ich seine Krankheit nicht ernst nehme. Aber das stimmt nicht. Ich nehme sie ernst, immerhin bin ich ja mit drei kleinen Kindern und all unseren Habseligkeiten in dieses Megakaff gezogen, damit mein Mann sie alle unterstützen kann. Und beschwere ich mich? Zumindest nicht öffentlich. Nur bei Caro. Meiner neuen Verbündeten.
Uns verbindet ein großer Makel: sie ist Deutsche und ich höre mich wie eine an. Wir sind Außenseiter und das hat sie mir auf Anhieb irrsinnig sympathisch gemacht. Sie war die Erste, die mich nicht nach meinen ersten zwei Sätzen fragte: „Du kommst aus Deutschland?“
Man muss wissen: das ist kein Kompliment in Österreich. Natürlich ist es auch keine Beleidigung. Wir Österreicher wissen alle über die wirtschaftliche und auch sprachliche Überlegenheit unserer Lieblingsnachbarn und unsere eigene Abhängigkeit von ihnen. Wir brauchen sie und unser Überleben hängt von ihnen ab. Ganz besonders bei denen, die im Tourismus arbeiten. Denn: die Deutschen sind unsere wichtigsten Gäste. Seit Jahren sind sie uns treu und kommen vollzählig und ganz sicher pünktlich, wenn sich der erste Schnee ankündigt oder die Bergrosen blühen.
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