Kein Wunder.
Ich war bereits mit dreiundzwanzig Jahren approbierter Psychiater, hatte mit fünfundzwanzig bereits den Professorentitel und lehrte an verschiedenen Universitäten. Mein Ruf eilte mir stets voraus – ich war der Beste auf meinem Gebiet. Und dafür auch in der einschlägigen Literatur bekannt.
Professor Dr. Christopher Duning, inzwischen achtundvierzig Jahre alt und bis dato unerreicht in der forensischen Psychiatrie.
Ich unterhielt auch eine kleine Praxis, allerdings eher als Hobby. Die reichen Snobs mit ihren alltäglichen Problemen und Psychosen. Eine willkommene Abwechslung dann und wann.
Und natürlich ein nicht zu verachtendes Zubrot.
Aber zurück zu Claire Nolan, sechsundvierzig Jahre alt, eine Frau vom Lande mit Bauernhof.
Und nun eine Witwe und Mörderin.
Nach diesem Bericht wusste ich, sie würde sicher keine Strafvergünstigungen bekommen.
Sie war klar und gesund.
Shit happens.
Der Fall war klar.
Dennoch standen Gespräche an. Vorschrift unserer Rechtsprechung und in manchen Fällen wie dieser hier reine Zeitverschwendung.
Ich betrachtete die Polizeifotos in ihrer Akte.
Sie war zwar um die Mitte Vierzig, sah aber älter aus. Korpulent, trug Brille, hatte einen leeren Blick. Ihr Gesicht war fett. Doppelkinn. Sie stand gebeugt. Typ unzufriedene Hausfrau. Sie erzeugte kein Mitleid mit ihrer Gestalt.
Keine großen Kinderaugen und keine zarte Statur. Sie lud regelrecht dazu ein, ihr noch einmal eins zu verpassen und sie wegzusperren, damit man nicht mehr daran denken musste, dieses menschliche
Wrack nicht seinen Tag störte, wenn man genüsslich einen Kaffee trank und die Sonne schien.
Merkwürdig. Ihre intelligente Art zu schreiben passte nicht zu diesem Bild. Sie hatte sich – wenn man die Umstände betrachtet - kurz gefasst und nicht wirklich emotional lamentiert. Sie hatte lediglich Feststellungen und Tatsachen aufgeschrieben, selbst die, die emotionaler Natur waren.
Und doch... irgendetwas löste dieser Bericht in mir aus. Mitgefühl? Ärger?
Es packte mich irgendwas und ich wollte wissen wieso. Der Besuch würde eine Pflicht sein, der ich ungern nachging, aber ich war neugierig genug, um dem Ganzen einen wenn auch kleinen persönlichen Stellenwert zuzumessen.
Also machte ich einen baldigen Termin aus.
Als wir uns begrüßten war ich perplex. Vor mir stand eine andere Person als die, die ich erwartet hatte. Ich rief mir nochmal die Fotos vor Augen. Ja, es gab die gleichen Merkmale, sie war es tatsächlich. Aber sie war deutlich schlanker, hatte ein feingeschnittenes Gesicht und dadurch wirkten ihre Augen größer. Sie waren blau. Ihre Haare waren länger und blond.
Die Brille fehlte. Ich fragte nach.
„Ach, die ist kaputt gegangen“, erklärte sie freundlich. „Aber das macht nichts, ich konnte mit der zum Schluss auch nicht mehr richtig sehen und ich hatte kein Geld für eine neue.“ Ich wies sie darauf hin, nun eine neue bestellen zu können. Für so etwas sorgt der Staat.
Doch sie entgegnete: „Nein, manchmal ist es besser, nicht zu genau hinzusehen.“
Wir ließen das Thema ruhen. Ich beschloss dennoch, die Gefängnisleitung darauf hinzuweisen.
Es konnte losgehen.
„Wie geht es Ihnen?“ fragte ich.
„Gut, danke. Ich hoffe Ihnen auch. Was möchten Sie wissen? Warum sind Sie hier?“
Der Smalltalk war beendet.
Sie wollte offenbar keine Zeit verschwenden. Sehr effektiv. Ich öffnete die Akte.
„Ihr Bericht“, sagte ich, „war sehr eindrucksvoll. Sie schreiben sehr gut. Ich habe allerdings noch ein paar Fragen dazu. Zuerst möchte ich wissen, warum Sie im ersten Teil in der dritten Person geschrieben haben. Und im zweiten Teil die Ich-Form gewählt haben.“
Sie zuckte mit den Schultern, sah mir offen ins Gesicht. Sie scheute den Blickkontakt nicht. Aber ihr Blick verriet keine Verbindlichkeit, als sie antwortete.
„Mir war danach. Meine Vergangenheit konnte ich so viel besser schildern, als wäre das nicht ich gewesen, der das passiert ist. Die so viel Mist erlebt hat, den Umständen nichts entgegensetzen konnte. Na ja, aber der zwölfte Oktober, der war eindeutig mein Tag. Da habe ich zumindest das wesentliche endlich einmal selbst entschieden.“
Sie machte eine kurze, nachdenkliche Pause und sprach dann weiter.
„Sie haben noch weitere Fragen? Nun, ich dachte, ich hätte alles nötige aufgeschrieben. Sie sollen doch nur feststellen, ob ich schuldfähig bin. Klar, natürlich bin ich das. Bitte keine mildernden Umstände. Sie sind Gutachter, ein Sachverständiger, und werden mit Sicherheit sehr viel zu tun haben. Ich will Ihnen keine Zeit stehlen.
Andere werden Sie nötiger haben.“
Immer die anderen zuerst, sie selbst in ihren Augen unwichtig. So stellte sie sich also dar.
Ein Automatismus. Oder doch nur ein Spiel?
Ich machte mir die ersten Notizen.
„Nein, Sie sind genauso wichtig wie die anderen auch. Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie Ihre Tat heute beurteilen, diesen Amoklauf. Darum geht es mir.“
Sie lehnte sich zurück.
„Nun, ich habe getötet. Ich versuche nicht daran zu denken. Der Bericht war nicht einfach für mich und ich möchte eigentlich nur das Urteil hören und wieder in mein Zimmer – später wohl einmal eine Zelle - gehen.“
„Fühlen Sie sich sicher in, sagen wir mal, Verwahrung?“
„Auch das. Aber ich kann so niemandem mehr schaden. Das ist die Hauptsache für mich. Und ich habe endlich meine Ruhe.“
Hier hakte ich ein.
„Ich würde mich auf diese trügerische Ruhe nicht verlassen. Irgendwann holt Sie die Geschichte ein. Wie wollen Sie damit umgehen?“
Sie schwieg einen Moment und wirkte sehr gelassen.
„Ich weiß es nicht, ich bin gut im Verdrängen. Vielleicht werde ich eines Tages einfach meine Medikamente nicht mehr nehmen und einen Anfall provozieren, sollte mich das alles irgendwann einmal einholen. Ich bin Epileptikerin, wissen Sie. Einen großen Anfall mit Status Epilepticus übersteht man nicht so unbeschadet. Da vergisst man mit Sicherheit! Das weiß ich aus meiner Tätigkeit in der Pflege.“
„Sie haben also einen Plan. Sie setzen Ihre Gesundheit auf´s Spiel.“
Ich war wirklich verblüfft. Hätte ich ihr nicht zugetraut.
„Wenn es nicht mehr erträglich ist, natürlich. Das ist doch logisch.“
Wir schwiegen. Ich machte mir weitere Notizen.
Es wurde komplizierter als gedacht.
Die Epilepsie zum Beispiel hatte ich überlesen. Oder war sie gar nicht erfasst?
Claire Nolan spielte mit ihrem Ärmel und schien abzuwarten.
„Wie lange haben Sie schon die Krankheit?“ fragte ich.
„Seit meiner Pubertät, mit vierzehn Jahren ging es los. Aber die Anfälle waren seltener geworden, alle drei Jahre mal einen großen, ansonsten nur kleine Ausfälle oder Zuckungen in den Armen oder Beinen. Und ich spüre es vorher, also keine Gefahr. Deshalb bin ich auch Auto gefahren.“
„Wie äußern sich diese Anfälle?“
„Die großen sind das übliche. Schwindel, Krampfen, Aufschrei, fallen, wegtreten, sich einnässen. Nach ein paar Minuten zu sich kommen, ins Bett gehen und ein paar Stunden schlafen.“
„Und die kleinen?“
„Watte im Kopf, unklare Gedanken, kleine Zuckungen.“
Ein Begriff ließ mich aufhorchen.
„Sie beschreiben den Begriff „Watte im Kopf“. Wie meinen Sie das?“
„Na ja, also alles ist dumpf, als säßen Sie unter einer Käseglocke. Als wären Sie in einer dicken Schicht Watte gepackt. Alles ist langsamer. Zeitlupentempo. Sie sehen alles überdeutlich passieren. Jedes Detail an den Dingen, die Sie umgeben. Sie denken keinen Gedanken zu Ende, laufen auf Autopilot und erledigen alles nur noch instinktiv richtig.Vielleicht ein kleiner Kopfschmerz. Und dann zucken die Arme, Beine oder der ganze Körper, als würde Sie etwas erschrecken.“
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