Sie überlegte kurz, bevor sie antwortete.
„Wenn wir Besuch bekamen, war das immer toll. Ich hatte einen Lieblingsonkel, der kam öfters mal mitten in der Nacht. Und mit ihm durfte ich mitfahren, er war LKW-Fahrer. Er nannte mich immer seine Prinzessin. Oder auch die Besuche meines Vaters, bevor er den Kontakt abbrach. Die Wochenenden waren immer toll.“
„Beide hatten keinen Einfluss auf Ihre Erziehung, nicht einmal Ihr Onkel. Der Bruder Ihrer Mutter?“
Sie nickte.
„Ja, genau. Er war ihr Bruder. Später war ich auch oft bei ihm. Es entwickelte sich eine Beziehung. Oder besser, wir landeten im Bett. Ich war seine Prinzessin und er liebte mich. Er wollte mit mir durchbrennen und ich glaubte ihm. Immerhin hatten wir Jahrzehnte einen guten Draht zueinander. Aber leider wurde daraus nichts. Er nahm sich eine andere Frau. Und ich war erst 16 Jahre alt. Keine Chance.“
„Wie alt war Ihr Onkel damals?“
„Um die Vierzig glaube ich.“
Ich war wieder einmal überrascht. Inzest, Missbrauch, das ganz große Kino. Und sie sprach völlig unbeteiligt darüber.
„Gab es noch andere – sagen wir – Liebschaften?“
„Ein Saufkumpan meiner Mutter betatschte mich öfters. Meine Mutter schlug mich, als ich ihr davon berichtete. Sie glaubte ihm. Aber danach hörte er wenigstens auf.“
„Wie haben Sie sich damals gefühlt?“
„Keine Ahnung. Ich habe es vergessen.“
Ich schrieb mir einiges auf.
„Ich habe noch eine Frage“, sagte ich.
„Wenn Ihnen ein Kind diese Geschichte erzählen würde, was würden Sie dabei empfinden? Was würden Sie denken?“
„Ich würde sie retten wollen. Ich würde sie nehmen und mit ihr abhauen. Sie in Sicherheit bringen.“
„Kein Mitleid?“
„Das wäre Gift für dieses Mädchen. Nein, kein Mitleid, sondern vermutlich das Gefühl, sie beschützen zu wollen.“
„Wie weit würden Sie dabei gehen?“
„Ich hätte sie aus diesem Loch befreit, denke ich. Mit ihr geflüchtet.“
„Und wenn Sie gesehen hätten, wie ihre Mutter sie schlug, sogar abstechen wollte, der Onkel sie bestieg, der andere sie betatschte? Was hätten Sie getan?“
„Ich hätte sie wohl weggestoßen, im Zweifel schwer verletzt, unschädlich gemacht. Irgendwie. Ihnen ins Gewissen geredet oder beschimpfen hätte nichts gebracht, das weiß ich.“
Ich hatte von einem Kind gesprochen, sie hatte sich direkt damit identifiziert und direkt in der weiblichen Form geantwortet.
Ein winziger Fortschritt.
Nun gut. Unsere Zeit war diesmal viel zu schnell um. Aber ich hatte über vieles nachzudenken.
„Für heute haben wir es geschafft“, sagte ich ihr. „Beim nächsten Mal hätte ich gern wieder einen Bericht von Ihnen über Ihre Zeit als junge Erwachsene. Kriegen Sie das hin?“
„Ja, natürlich.“
„Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, welche Gefühle sie hatten, welche Bilder Ihnen dabei hochkommen. Irgendwas.“
„Ich kann Ihnen nichts versprechen....“
„Aber versuchen werden Sie es, oder? Wenigstens das.“
Sie nickte.
„Ja, das werde ich.“
Damit war das Gespräch beendet. In meinem Kopf drehte sich alles, ich war angeschlagen. Nicht gut, nicht professionell.
Alles hatte ich schon einmal gehört. Auswirkungen gesehen.
Aber alles auf einmal zu erleben, das war heftig. Und die Auswirkungen kaum spürbar.
Genau das verstand ich nicht. Claire Nolan war wie ein Stück glitschiger Seife, sie war nicht zu fassen. Ich brauchte aber einen Ansatzpunkt.
Ich brauchte eine Schwachstelle bei ihr, um sie zu knacken.
Mochte sie auch vieles erlebt haben, traumatisiert sein, im wahrsten Sinne schuldunfähig sein, dennoch hatte sie mich noch nicht restlos überzeugt. Die Frage, die über ihr Wohl und Wehe entscheiden würde, war noch nicht geklärt.
Wie weit ging ihre Lüge?
Mein Job war mir heilig, ich war wie schon erwähnt einer der Besten auf meinem Gebiet. In meiner Funktion entschied ich über die Zukunft der Kandidaten, die kriminelle Taten begangen hatten. Jeder einzelne von ihnen war zumindest eine Zeit lang in meiner Hand und ich war mir meiner Verantwortung voll bewusst.
Die Gerichte legten sehr viel Wert auf meine Meinung und entschieden oft nach meinen Expertisen. Mir konnte keiner etwas vormachen und ich handelte schlussendlich danach.
Mein Gerechtigkeitssinn ist ebenfalls absolut erste Klasse.. Einige wenige entkamen ihrer gerechten Strafe und das war der Unfähigkeit der einzelnen zu gnädigen Richter geschuldet, doch auch die würde ich über kurz oder lang auf den rechten Weg führen – lediglich eine Frage der Zeit.
Früher neidete ich den Richtern ihren Job – die höchste Instanz zu sein, über ein Leben richten zu können. Ein Traum. Aber meine Berufung – und als das sah ich meinen Job – war ebenfalls hochkarätig, denn ich konnte die höchste Instanz beeinflussen in ihrer Entscheidung.
So sah ich folgerichtig die Richter lediglich als meine Helfer, meine Untergebenen, die nach meinem Wunsch ihr Urteil sprachen.
Oh ja, ich habe einen ausgezeichneten Gerechtigkeitssinn. Er ist besser und viel präziser als der eines Richters. Ich treffe meine eigenen Urteile.
Und ich richte.
Beides geht oft nicht mit den Ansichten eines verweichlichten Richters konform, aber ich hatte meine Möglichkeiten, um diese Schwächen zu korrigieren.
Besser hätte mein Leben nicht laufen können.
Claire Nolan empfand ich als erste wesentliche Herausforderung seit langem. Einerseits hatte ich meine Prinzipien, einen Verbrecher niemals davonkommen zu lassen. Das war meine Berufung. Nur in Fällen, in denen jemand aus Krankheitsgründen eine Tat begangen hatte oder sich in einem Schockzustand oder einer Gefahrensituation befunden hatte, konnte ich nichts tun. Denn auch das Gericht wusste ja von den Umständen und urteilte danach. Da hatte ich also mit den Wölfen zu heulen. Und gegebenenfalls später und ohne Justiz eine Strafe zu verhängen und auszuführen.
Wie auch immer, ich brauchte so oder so möglichst viele Informationen über ihre wunden Punkte, psychischen Schwachstellen und wahren Bedürfnisse.
Welche Strafe auch immer sie erwartete – und mir diese vermutlich zum allerersten mal in meiner Laufbahn zu hoch vorkommen würde -, es schadete nie, genauestens Bescheid zu wissen.
Möglicherweise konnte ich ihr später helfen, wenn auch aus ganz anderen Motiven heraus. Aber eigentlich ging es um mich. Ich hasste es, wenn sich mir jemand nicht komplett offenbarte.
Natürlich erzählte sie mir alles mögliche. Benutzte die richtigen Wörter für die intelligente Beschreibung ihrer Emotionen. Aber niemals zeigte sich das jeweilige Gefühl in ihren Augen oder ihrem Gesicht. Sie weinte nie. Schrie nie. Die Tonlage ihrer Stimme war tatsächlich so als würde sie von den Geschehnissen anderer berichten – ohne jedes Mitgefühl.
Sie schien sich mir zu öffnen, schlug aber in letzter Konsequenz die Tür zu. Sie berichtete alles, ohne irgendetwas wesentliches – nämlich ihre Emotionen – im Detail zu beschreiben. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Hund, der einen Hasen jagt und der ihm im letzten Moment mit einem Haken entwischt.
Es war zum verrückt werden.
Bei meinem nächsten Besuch übergab sie mir ein einzelnes Blatt Papier, beidseitig geschrieben.
„Nur so wenig“, stellte ich fest.
„Ja.“
Und ich nahm mir die Zeit, den Text jetzt schon zu lesen.
Ich lernte meinen ersten Mann mit 17 kennen. Er war psychisch krank. Leider habe ich das zu spät erkannt. Er drohte mir mit Suizid, sollte ich ihn verlassen und ich glaubte ihm und wagte erst nach 8 Jahren den Absprung. Aus dieser Verbindung stammt mein einziges Kind.
Sein Nachfolger war 25 Jahre älter als ich. Wir hatten eine ON/Off-Beziehung. Er erkrankte an Krebs und ich pflegte ihn bis zum Schluss. Erst danach erfuhr ich von seiner anderen Frau, die im Ausland gelebt hatte. Mit ihr war er eine Fernbeziehung eingegangen und lebte diese 20 Jahre lang. Ohne mein Wissen. Ich lernte sie auf seiner Beerdigung kennen.
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