»Einverstanden«, antwortete sie und ging mit ihm den Pier entlang. Sie war neugierig auf ihn geworden und wollte wissen, wer hinter dieser geheimnisvollen Fassade steckte.
»Was studierst du?«
Thas schüttelte den Kopf. »Ich studiere nicht.«
»Aber in die Unibibliothek kommen nur Studenten rein.«
»Oder Personen, die gut mit dem Wachmann können«, zwinkerte er ihr zu.
Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Layna aus. Hatte sie sich doch getäuscht? Wenn er den Wachmann kannte, dann war es auch kein Problem für ihn, sich dort mit ihr einschließen zu lassen. Es bestand also weiterhin die Möglichkeit, dass er ihr Verfolger war, was sie wieder nervös machte.
Sie gingen die Strandpromenade entlang, an der sich Restaurants, Bars und Souvenirgeschäfte aneinanderreihten. Da es bereits Mittagszeit war, waren die Lokale gut gefüllt. Der Duft von geräuchertem Fisch, Pommes frites und gebratenem Fleisch erfüllte abwechselnd die Luft. An der Promenade fand man die besten Restaurants weit und breit. Das nächste genießbare Essen gab es erst wieder in der Innenstadt.
Am Beach Park angekommen, mischte sich das Aroma von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln unter den Duft des Mittagessens. Layna war schon lange nicht mehr dort gewesen. Sie schlenderten an automatischen Wurfbuden, Hotdogautomaten und kleineren Fahrgeschäften entlang. Sie erinnerte sich an Fotos von Jahrmärkten, wie sie vor vielen Jahrzehnten gewesen waren. Bunte Stände, in denen Schausteller ihre Waren oder Spiele verkauften. Heutzutage gab es keine Schausteller mehr. Man warf eine Münze in einen Automaten, bekam seinen Hotdog oder durfte eine Runde spielen.
Bereits mehrmals waren sie an Maschinen für Softeis vorbeigekommen, doch Thas machte keine Anstalten, dort ein Eis zu holen. Layna fragte sich, ob es nur ein Vorwand gewesen war und er sie gleich hinter eine der Buden zerren würde, um sie zu erwürgen. In der Nähe des nächsten Automaten hielt sie an.
»Was ist?«, fragte Thas. Sie zeigte auf den Eisautomaten, aber er schüttelte den Kopf. »Nicht daraus. Ich zeige dir, wo du das beste Softeis der Welt bekommst.«
»Wahrscheinlich in einer dunklen Ecke, wo sie niemand schreien hört«, dachte Layna. Sie ging keinen Schritt weiter. Sie konnte die Situation einfach nicht einschätzen. War sie in Gefahr oder nicht? Lud ein Mörder sein Opfer auf ein Eis ein, bevor er es umbrachte?
Thas bemerkte ihr Zögern. »Vertrau mir. Es ist nicht mehr weit.«
Layna seufzte und verdrehte die Augen. Die Neugierde war doch stärker als ihre Angst und so ging sie mit ihm. Nach ein paar Metern bog er durch einen Durchgang in eine schmale Seitengasse ab. Dort gab es Stände, die nicht automatisiert waren. In jeder kleinen Bude saß jemand, der sich langweilte. Kaum jemand verlor sich in diese Seitenstraße. Die meisten blieben auf dem Hauptweg bei den modernen Automaten und Fahrgeschäften. Auch Layna war dieser Weg vorher noch nie aufgefallen.
Vor der letzten Bude hielt Thas an. Es war eine rosa gestrichene Holzhütte mit aufgemalten Comicfiguren, in der Zuckerwatte und Eis verkauft wurden. Ein dicker, glatzköpfiger Mann saß auf einem kleinen Stuhl und schnarchte vor sich hin.
Thas räusperte sich, um höflich auf sich aufmerksam zu machen, doch der Verkäufer reagierte nicht.
»Butch!«, rief er schließlich, woraufhin der Mann vor Schreck beinahe vom Stuhl kippte.
Als dieser sah, wer vor seiner Hütte stand, sprang er sofort auf und richtete sein weißes Hemd sowie die blau gestreifte Schürze.
»Thas! Dich habe ich heute nicht erwartet«, sagte er fast schon ängstlich, als hätte sein Chef ihn beim Schlafen erwischt. »Was kann ich für dich tun?«
Layna vermutete, dass Thas öfter bei Butch vorbeischaute, wenn sie sich mit Vornamen ansprachen. Dennoch wirkte der dicke Mann sehr nervös. Wahrscheinlich bekam er in der hintersten Ecke des Parks eher selten Besuch.
»Ich hätte gerne zwei Portionen Softeis«, antwortete Thas freundlich.
Butch blickte fragend zwischen ihm und Layna hin und her. »Nur Eis? Mehr willst du nicht von mir?«
»Nur Eis, Butch. Eins für meine Freundin und eins für mich. Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Natürlich nicht.« Sichtlich nervös öffnete er seine Kühltheke. Nebel stieg auf, als der den Deckel hochhob, und die kalte Luft zu Boden sickerte. Mit einer kleinen Kelle löffelte er das cremige Eis in zwei essbare Schalen, steckte noch je eine Waffel und einen Löffel hinein und stellte das Eis auf den Tresen.
Thas nahm die Becher, bedankte sich und reichte Layna einen. Es duftete herrlich nach Vanille und sah einfach köstlich aus. Ohne zu bezahlen, machten sie sich auf den Weg.
»Thas!«, rief der Verkäufer hinterher. »Ich hoffe … ich wollte nur sagen, dass …«
»Nicht heute, Butch!«, schnitt er ihm das Wort ab. »Heute habe ich andere Dinge im Kopf.«
Butch nickte tief. Es wirkte beinahe wie eine Verbeugung.
»Ein komischer Kerl«, flüsterte Layna.
»Er ist in Ordnung.«
Thas begann sein Eis zu löffeln. Sie beobachtete das mit einem Hauch Faszination. Er genoss es sichtlich. So etwas Simples wie ein Eis begeisterte ihn also.
»Kommst du oft hier her? Ich meine – du hast gar nicht bezahlt«.
»Ich kenne Butch schon eine Ewigkeit. Er tut mir einen Gefallen, ich tue ihm einen Gefallen. So läuft das bei uns.«
Layna schob sich den ersten Löffel Eis in den Mund. Es war das beste Eis, das sie je probieren durfte – so cremig und fluffig. Es war viel weicher als ein Eis aus den Automaten und schmeckte nicht nach künstlichen Vanillearomen, sondern nach richtiger Vanille aus Schoten. So etwas kannte sie nur aus dem Fernsehen, wenn reiche Sterneköche hochkomplizierte Gerichte zubereiteten. Schweigend löffelte sie den Becher aus, bevor sie auch diesen knabberte.
Thas schaute ihr dabei selbstzufrieden zu. »Habe ich also nicht zu viel versprochen?«
»Ich werde nie wieder ein anderes Eis essen können«, lachte Layna.
Mit dem letzten Bissen waren auch die Zweifel an Thas verschwunden. Jemand, der sich so für eine Kleinigkeit wie ein Eis begeisterte, konnte unmöglich etwas Grausames wie einen Mord begehen. Es sei denn, er war geisteskrank und Thas wirkte nicht, als hätte er den Verstand verloren.
Eine Zeit lang spazierten sie im Beach Park umher und unterhielten sich darüber, wie Layna zur Fotografie gekommen war. Thas war der Meinung, sie solle ihre Fotos auf einer Ausstellung verkaufen, damit jeder die Werke bewundern konnte. Doch sie traute sich nicht, mit ihren Bildern an die Öffentlichkeit zu gehen, was für ihn wiederum Verschwendung ihres Talentes war. Auf der Strandpromenade packte Layna die Kamera wieder aus, um wenigstens im Vorbeigehen ein paar Fotos zu schießen. Das gute Licht wollte sie ausnutzen, deshalb war sie ja dorthin gegangen.
Thas stützte sich auf eine Mauer, an der sich die Brandung brach. Er lehnte sich leicht nach vorne und beobachtete die Wellen, die gegen die Felsen preschten. Das Blau des Meeres spiegelte sich in seinen Augen, während sein Blick im Ozean versank. Layna drückte auf den Auslöser, um diesen Moment festzuhalten.
»Hast du nicht schon genug Fotos von mir gemacht?«, fragte Thas mit einem Lächeln, ohne sich vom Wasser abzuwenden.
Layna spürte, dass ihre Wangen rot anliefen, und senkte die Kamera. Sie wollte ihn auf keinen Fall provozieren, indem sie ihn wieder fotografierte. Doch da war etwas, das sie faszinierend an ihm fand. Vielleicht war es der beeindruckende Kontrast zwischen den dunklen Haaren und seinen fast weißen Augen oder die sinnlichen Lippen, eingerahmt von winzigen Bartstoppeln. Nein, sie durfte nicht anfangen, von ihm zu schwärmen. Mit Mike war es schon kompliziert genug, da musste sie es nicht noch komplizierter machen und an einen weiteren Mann denken.
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