Nachdem sie ein trockenes Shirt und eine kurze Jeans angezogen hatte, griff sie nach den Schuhen, als plötzlich in ihren Gedanken Mike auftauchte. Natürlich, Mike war da gewesen. Er hatte sie nach Hause gebracht. Wie konnte sie das nur vergessen?
Als sie ins Wohnzimmer ging, bemerkte Layna, dass außer ihr niemand in der WG war. Tony hatte sie trotz einer Vorlesung schlafen lassen. Das sah ihm gar nicht ähnlich, so bedacht wie er darauf war, dass sie im Moment keine Vorlesung verpasste oder zu spät kam. Anscheinend war es ihr wirklich schlecht gegangen, dass er sie nicht geweckt hatte.
Sie füllte eine Schüssel mit Müsli und löffelte es draußen auf dem Balkon. Ein leichter, warmer Wind wehte. Genau das richtige Wetter, um sich den Tag am Pier zu vertreiben. Während sie auf ihrem Frühstück herumkaute, wärmte die Sonne ihr Gesicht. Das bedeutete ein paar Sommersprossen mehr, die Layna auf den Tod nicht mochte. Ein Los, mit dem rothaarige Menschen wohl zu kämpfen hatten.
Nach dem Essen schnappte sie sich die Kamera, steckte sie in den Rucksack und lief die Treppe hinunter, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen. Sie fühlte sich mittlerweile richtig gut, irgendwie leicht, als ob es die letzten Tage nicht gegeben hätte. Sie machte sich weder Gedanken um die Uni, noch um Mike oder den Verfolger. Sie freute sich einfach auf einen unbeschwerten Tag.
Am Pier angekommen, kettete sie ihr Rad an einen Baum fest. Es waren viele Einheimische und Touristen unterwegs und überfüllten beinahe die Strandpromenade sowie den Pier. Aber das war Layna egal, denn je mehr Leute dort waren, desto mehr Motive gab es für sie. Vielleicht schaute sie auch noch im Beach Park vorbei, einem winzigen Vergnügungspark am Ende der Promenade, und machte ein paar Fotos aus dem Riesenrad heraus.
Für den Anfang setzte sie sich auf eine kleine Bank mitten auf dem Pier, der an dieser Stelle breiter gebaut war. Dort kamen erfahrungsgemäß viele Menschen entlang und blieben stehen, um sich das Meer und den Strand anzusehen. Sie saß noch nicht lange, da schoss sie auch schon das erste Porträt. Ein alter Mann erklärte seiner Enkeltochter, dass dort unter dem Ozean eine Stadt verborgen lag. Das Mädchen stand auf einer Sprosse des Geländers, während ihr Großvater sie festhielt. Sie lauschte gespannt seinen Worten und schaute ihn neugierig an.
Als Nächstes erregte ein kleiner Junge Laynas Aufmerksamkeit. Er versuchte mit einer selbstgebauten Angel, Fische zu fangen. Als Köder wickelte er Süßigkeiten an die Schnur. Um ihn besser fotografieren zu können, stand Layna auf und platzierte sich neben das Geländer am Rand des Piers. Sie legte gerade den Fokus auf den Jungen, als sich jemand vor sie stellte. Verärgert schaute sie über die Kamera hinweg, um zu sehen, wer ihr den Weg versperrte.
Sie zuckte zusammen und zog scharf die Luft ein. Vor Schreck glitt ihr die Kamera aus den Händen. Layna versuchte, nach ihr zu greifen, verfehlte sie aber. Kurz bevor sie auf den Boden aufschlug, fing der Mann sie auf, der sich zwischen sie und den Jungen gestellt hatte.
»Die solltest du besser nicht fallen lassen«, sagte der Fremde mit den Eisaugen aus der Bibliothek lächelnd und reichte Layna die Kamera.
Unfähig sich zu rühren, die Kamera zu nehmen oder irgendetwas zu sagen, starrte sie in die silbernen Augen. Trotz seines Lächelns wirkten sie immer noch eiskalt. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass er ihr auf dem Pier unmöglich etwas antun konnte. Dennoch raste ihr Herz wie wild in der Brust.
»Du warst doch gestern in der Bibliothek.« Seine Stimme klang ruhig und freundlich. Beinahe besänftigend.
Layna nickte. Zu einer anderen Bewegung war sie immer noch nicht imstande.
Der Fremde drehte die Kamera um und schaute auf das kleine Display auf der Rückseite. »Lass mal sehen, was du so fotografierst.«
Ruckartig zerrte Layna die Kamera aus seinen Händen. Er durfte auf keinen Fall wissen, dass sie ihn fotografiert hatte. Abgesehen davon, dass es ihr peinlich wäre, könnte es womöglich auch gefährlich für sie sein. Sie wusste ja nicht, wie dieser Kerl tickte. Wenn er wirklich ihr Verfolger war, musste sie sich in Acht nehmen, was sie tat. Auch wenn sie tagsüber am Pier sicher war. Irgendwann würde sie wieder alleine unterwegs sein und wäre eine leichte Beute.
»Das sind nur … Leute«, stotterte sie.
Er grinste sie breit an und lehnte sich mit den Unterarmen auf das Geländer. Unter seinem weißen Shirt zeichneten sich die Muskeln an Armen und Bauch ab. Trotz der Wärme trug er eine lange schwarze Hose mit Taschen an den Seiten. Layna fragte sich, ob er ein Messer oder eine Waffe darin versteckt haben könnte.
»Ich weiß, dass du mich fotografiert hast«, sagte er ruhig und strich sich wieder einmal die Haare aus dem Gesicht.
Layna wollte auf der Stelle im Erdboden versinken. Normalerweise hätte sie sich mit einem klugen Spruch gerechtfertigt, ihn angeschnauzt oder sich sonst irgendwie verteidigt, aber jetzt starrte sie nur peinlich berührt auf den Boden, während sich ihr Herz vor Aufregung beinahe überschlug. Er konnte ihr am Pier nichts tun, sagte sie sich immer wieder in Gedanken.
»Du weißt doch bestimmt, dass du um Erlaubnis fragen musst, wenn du jemanden fotografierst.« Er blieb weiterhin ganz gelassen.
»Nicht, wenn derjenige sich auf einem öffentlichen Platz befindet.« Sehr gut, lobte Layna sich. Nicht unterkriegen lassen.
»Dennoch würde ich die Bilder von mir gerne sehen.«
Ihr Magen zog sich zusammen. Es war schon schlimm genug, dass er von den Fotos wusste. Wenn er auch noch sah, was für Bilder sie geschossen hatte, wie nah sie seine Augen und Lippen fotografiert hatte, dann könnte sie gleich vom Pier springen. Also suchte sie das harmloseste Foto von ihm raus und hielt die Kamera vor seine Nase. Er nahm sie jedoch entschieden, aber vorsichtig entgegen und schaute genauer auf das Display.
Layna wurde nervös. Er scrollte lange durch die Fotos, sagte kein einziges Wort. Je länger er die Fotos betrachtete, desto mehr befürchtete sie, dass sie ihre Kamera nicht zurückbekam und besser die Flucht ergreifen sollte. Aus seinem Gesichtsausdruck wurde sie jedenfalls nicht schlau. Kniff er die Augen zusammen, weil die Sonne blendete oder weil er wütend war? Sie wurde immer unruhiger, schlich Zentimeter für Zentimeter weiter von ihm weg. Bereit, loszurennen.
»Du hast wirklich Talent«, sagte er schließlich.
Layna stand überrascht mit offenem Mund vor ihm. Damit hatte sie am wenigsten gerechnet.
Er reichte ihr die Kamera, hielt sie aber fest, als sie danach griff. Er fesselte sie mit seinem Blick. »Normalerweise bedanken sich die Leute, wenn ich ihnen ein Kompliment mache.«
Layna ruckte an der Kamera und riss sie ihm aus der Hand. »Normalerweise stellen sich die Leute vor, wenn sie mit mir sprechen.«
Der Fremde lächelte. »Thas.«
»Thas? Was ist das denn für ein Name?«
»Ein sehr alter.«
Layna nahm all ihren Mut zusammen und reichte ihm die Hand. »Layna. Keine Ahnung, wie alt der ist.«
Thas lachte und schüttelte ihre Hand. »Freut mich, Layna.«
Für einen Augenblick verlor der Fremde das Düstere, das ihn umgeben hatte. Seine dunkle Aura, durch die er unheimlich gewirkt hatte, verschwand und vor ihr stand ein normaler junger Mann, der ihr gegenüber freundlich war. Und dazu noch ziemlich gut aussah. Sein Lächeln war frech und fordernd zugleich, als hecke er einen Streich aus, bei dem er sie dabei haben wollte. Dennoch blieb dieses Gefühl, das sie nicht zuordnen konnte. Ein Kribbeln, das sie zur Vorsicht gebot.
»Ich wollte mir gerade ein Softeis im Beach Park holen. Wenn du willst, lade ich dich ein«, schlug Thas vor.
Layna musste lachen. Sie kam sich wie ein Vollidiot vor, dass sie ihn verdächtigt hatte, ihr Verfolger zu sein. Vielleicht hatte er in der Bibliothek einfach schlechte Laune gehabt. Oder sie hatte sich diesen eisigen Blick nur eingebildet. Immerhin hatte er ihr die Fotos von sich überlassen. Er hätte sie auch einfordern können. Warum sollte sie ihm also keine Chance geben?
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